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ZWISCHEN HOLLÄNDER UND JAVERT - Teil 2

Das Repertoire des Baritons besitzt auch heute eine große Bandbreite. Allein in der aktuellen Spielzeit singt er neben Papageno den Besenbinder Peter in "Hänsel und Gretel", Mamm' Agata in Donizettis "Viva La mamma" und Javert im Musical "Les Misérables".

Bestehen Unterschiede in der Erarbeitung von Opern- und Musicalpartien? Am Anfang stehe auch bei Musicals wie "Les Misérables" die musikalische Einstudierung. "Natürlich befaßt man sich dann auch mit dem Text, liest ihn dann nochmals rein von der Musik losgelöst. Man kann natürlich immer, ähnlich zu den Opernrollen, die Grundlage lesen. Worauf geht es eigentlich zurück?" Dabei sehe man oft schon große Unterschiede, und selbstverständlich müsse man sich dann mit dem Regisseur z.B. darüber unterhalten, wie, in welchem Kontext und in welcher Zeit er die Rolle angelegt haben möchte.

"Im Grund genommen ist es, wenn es, von den zwei, drei Sprechtexten dazwischen einmal abgesehen, um eine sich rein vokal äußernde Rolle geht, eine musikalische Rolle und muß entsprechend musikalisch studiert werden." Allerdings bestünden in der Form wie eine Partie gebracht wird, wenn es um den Ausdruck geht, große Unterschiede. Stimmästhetisch, klangästhetisch gehe man natürlich anders damit um, ob man einen Mozart singe oder eben ein Schönberg-Musical.

Und von der Figur her? "Auch von der Figur her. Nun ist der Javert ja in der Nähe von anderen Typen, die man auf der Opernbühne singt." Ulrich Kratz verweist hier auf Gemeinsamkeiten zwischen Scarpia und Javert. Scarpia habe zwar eine andere Intension, "aber sie haben schon ein paar Dinge, die sie verbinden - z.B. dieses unabdingbare sich nur mit sich selbst Beschäftigen. Diese beiden sind eigentlich sehr einsame Typen - dazu geworden, durch ganz unterschiedliche Veranlagungen. Scarpia wird zum Sadisten und Machtmonopolisten. Javert spielt sich zum Richter auf, der sich gleich hinter Gott stellt. Dieses fast Autistische. Das haben sie beide."

Javert sei ein Staatsdiener, ein gottesfürchtiger Mensch. "Als ich sein Lied zum erstenmal auf einer musikalischen Probe sang, dachte ich : ‚Mein Gott, wie kann ein Mensch denn wohl sein, der solche Sachen sagt. Nur wer gottesfürchtig lebt und sich nichts zu schulden kommen lässt, der darf in Frieden leben. Aber wer , aus welchen Gründen auch immer die kleinste Übertretung eines Gesetzes begangen hat, der gehört in den Knast und an den Pranger gestellt und hat kein Recht auf eine menschenwürdiges Leben.' Unglaublich. So kann man doch nicht sein, oder?. Doch, man kann. Und es ist herrlich, herauszufinden, wie diese Typen funktionieren. Da muß man sich schon sehr weit draufeinlassen."

Wichtig sei ein Regisseur, mit dem er gut kooperieren könne, sagt Ulrich Kratz. "Ein Regisseur, der mir einen Spiegel vorhält. Ist der Regisseur nicht so sehr kritisch, wird es für mich eher schwierig. Ich probiere wahnsinnig gern aus. Da muß einem ein Regisseur schon mal helfen und sagen: ‚Mach' von dem lieber ein bißchen weniger. Oder diese Seite kannst Du noch mehr betonen'." Generell versuche er, aus dem rein Musikalischen heraus auch schon eine Haltung für die Figur zu finden, aber nie so, daß man nicht noch gesprächsbereit sei, dies in einer Szene nicht auch in eine andere Richtung weiterzuentwickeln.

Der Bariton ist beim Publikum unglaublich beliebt. Erlebt man die Reaktionen nach den Vorstellungen in Lüneburg oder wirft man einen Blick in das Gästebuch auf der Website des dortigen Theaters, denkt man eher an Begeisterung für einen Popstar als an die (vorgeblich) vornehm ernste Würde eines Opernpublikums. "Das ist doch einfach toll", sagt Ulrich Kratz und ergänzt, "Das Lüneburger Publikum hat natürlich seine Leute ins Herz geschlossen. Die sind ganz dicht an einem dran, und dementsprechend ist die Erwartungshaltung: ‚Ach, der ist dabei! Da freuen wir uns aber.'." Es sei eine unheimlich positive Grundeinstellung, die dahinter stecke und einen Künstler auch über ein Stück tragen würde, bei dem er sich vielleicht nicht hundertprozentig sicher sei. Die positive Erwartungshaltung des Publikums entspanne.

Der Freundeskreis des Theaters Lüneburg hat Ulrich Kratz in im Jahr 2001 den Thespisring, mit dem herausragende Leistungen eines Mitgliedes des Theaterensembles gewürdigt werden, verliehen.

Gibt es Wunschpartien? "Na klar, da gibt es noch unglaublich viele tolle Rollen und wunderschöne Musik." Posa z.B. würde er wahnsinnig gern singen, Jago und Wolfram von Eschenbach, und er schwärmt sogleich noch von der Lüneburger "Holländer"-Produktion (2001), einer Inszenierung "mit viel Phantasie, und trotzdem wurden die Musik und die Rollen zum Tragen gebracht. Für mich war es herrlich, daß es gebracht wurde, weil ich mich natürlich in diesem Fach erproben konnte. Ich habe das sehr, sehr geliebt."

Danach gefragt, was er auf gern aufnehmen würde, wenn er eine CD machen könnte, gibt der Bariton die spontane Antwort "Einen Arien-Querschnitt würde ich gern machen.", um dann allerdings sofort zu ergänzen, "Das wäre die eine Seite. Die andere wäre ein Liederabend auf CD." Er bedauert sehr, daß er in den letzten Jahren zu wenig dazu komme, Liederabende zu machen. "Einen Schubert- oder einen Strauss-Liederabend würde ich gern aufnehmen." Mit dem Konzert am 9. April 2006 (u.a. Mahlers "Kindertotenlieder") habe er eine gute Chance, auch das Liedprogramm wieder zu fokussieren.

"Das Musiktheater ist immer ein bißchen in die Größe genommen. Im Lied kann man so wunderbar auf kleinerem Raum so viele tolle Geschichten erzählen. Herrlich!"

Selten habe ich jemanden erlebt, der seine Begeisterung für die vielseitigen Aspekte seiner täglichen Arbeit so beeindruckend transportiert. Die Augen von Ulrich Kratz leuchten, wenn er feststellt: "Der Beruf ist ein sehr schöner, aber auch ein sehr schwerer." AHS