NICOLAI GHIAUROV IST TOT.

Die Opernwelt trauert um einen ihrer größten Bässe, der uns plötzlich verlassen hat, nachdem er noch Anfang des Jahres Opernauftritte absolviert hatte.

Die Erinnerung an Nicolai Ghiaurov ist für mich eine sehr persönliche. Im Jahre 1987 hatte meine Opernbegeisterung nur geglimmt. Zu Ostern in diesem Jahr besuchte ich in Hamburg „Don Carlos“. Ghiaurov trat im zweiten Bild auf und lieferte sich mit seinem Posa Giorgio Zancanaro eine solch leidenschaftliche Auseinandersetzung, daß ich danach das erste Mal in meinem Leben ein „Bravo“ ausstieß. Nach „Ella giammai m’amò“ mußte ich zum ersten Mal nach meinem Taschentuch greifen. Diese Vorstellung war der Beginn meiner Opernleidenschaft, die ich somit auch der großartigen Leistung Ghiaurovs verdanke.

Nicolai Ghiaurov wurde am 13. September 1929 in Velingrad im Süden von Bulgarien geboren. Er sang als Kind Koloratursopran, wollte zunächst Schauspieler werden und dirigierte bei der Armee in Orchester. Bei dieser Gelegenheit wurde seine Stimme entdeckt. Ab 1949 studierte er in Sofia am Konservatorium bei Christo Brambarov, dann fünf Jahre lang in Moskau. Nach dem Sieg in Wettbewerben wurde er 1956 an die Oper von Sofia engagiert, wo er als Basilio in „Barbiere di Siviglia“ debütierte. Diese Rolle sollte ihn seine ganze, fast fünfzig Jahre andauernde Karriere begleiten; zuletzt sang er sie im Januar 2004 in Venedig.

Bereits 1957 wurde Ghiaurov nach Moskau eingeladen, wo er in „Boris Godunow“ Pimen und Mephisto sang. Im gleichen Jahr sang er in Wien den Ramphis.

Die internationale Karriere wurde im Jahre 1958 mit dem Italiendebüt als Mephisto in „Faust“ beschleunigt. Die Scala hörte den jungen Baß und engagierte ihn sofort. Er sang dort zahllose seiner großen Partien im Laufe der Jahre, unter anderem Don Giovanni, Philipp, Silva, Fiesco, Warlaam (zu Boris Christoffs Boris’) und Padre Guardian. Es folgten Debüts in London und New York.

1965 avancierte Ghiaurov endgültig zum „König der Bässe“, wie ihn die Presse titulierte, einer Bezeichnung, der er mit der Bemerkung widersprach, er sei nur ein Baß. Bei den Salzburger Festspielen sang er unter Herbert von Karajan Boris. Neben dem Philipp ist dies die Rolle, mit der man ihn am meisten identifizierte.

Bis in die Gegenwart hinein sang Nicolai Ghiaurov die großen Partien seines Fachs, immer wieder Philipp und Boris, Fiesco, Iwan Chowansy, Gremin, Don Quichotte, Mephisto, Ramphis, Guardian, Zaccaria, Atilla, Procida, Rollen in den „Hugenotten“, „Medea“, „Favorita“, „Ein Leben für den Zaren“ und das Verdi-Requiem. Er hat mit eigentlich allen großen Dirigenten gearbeitet und mit allen berühmten Kollegen auf der Bühne gestanden.

Von Ghiaurovs nuancierter Gestaltungskunst, von seiner voluminösen Stimme zeugen zahlreiche Plattenaufnahmen; von seiner Bühnenpräsenz kann man sich auf Videos und DVDs ein Bild machen. Dieses kann jedoch nur ein eingeschränktes Bild sein, da man nicht sehen kann, wie sehr allein sein Auftritt schon ein ganzes Theater mit seiner Präsenz erfüllen konnte.

In zweiter Ehe war Ghiaurov mit Mirella Freni verheiratet; auch in künstlerischer Hinsicht eine glückliche Verbindung. Man konnte Nicolai Ghiaurov in „Eugen Onegin“ in der Briefszene in einer Loge gespannt auf der Sitzkante hockend sehend, während er seiner Frau auf der Bühne zusah und -hörte. Wenn er dann im vorletzten Bild als Gremin mit Mirella Freni am Arm auf der Bühne erschien und tief empfunden seine Arie sang, wußte man, Onegin hatte seine Chance verpaßt.

In der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2004 ist Nicolai Ghiaurov im Alter von 74 Jahren in Modena verstorben. Wir werden ihn, den König der Bässe, schmerzlich vermissen. MK