Berlin im Jahre 2006 - eine Glosse

Der letzte Ton vor der Pause verklingt. Vor dem geschundenen Beckmesser, der einsam und mit seiner zerstörten Laute in der Hand wehmutsvoll ins Publikum blickt, senkt sich der voluminöse Vorhang.
Schweigen. Dann begeisterter Applaus. Das Licht im Zuschauerraum wird langsam hoch gedimmt. Im ersten Schein des Kronleuchters kann man erkennen, wie der Dirigent und die Mitglieder des Orchesters eilig den Graben verlassen.
Allerdings achtet kaum jemand im Publikum darauf, treten doch soeben die Sänger vor den Vorhang.

Vor dem Opernhaus bietet sich einige Minuten später ein seltsames Bild.
Mehrere schwarzbefrackte Männer mit den verschiedensten Instrumenten in Händen eilen durch das Verkehrsgewühl der Großstadt und versuchen mit verzweifelten, ja teils irrem Blick, Taxis anzuhalten.
Dramatische Szenen - einer Opernhandlung gleich - spielen sich ab, sobald eines der Beförderungsmittel tatsächlich anhält.
Sechs, sieben Musiker stürzen zeitgleich auf den entsprechenden Wagen zu und versuchen, sich sowie ihre Instrumente hineinzubekommen.

Drinnen ist das Getümmel kaum weniger. Das begeisterte Publikum feiert die musikalischen Helden des Abends. Ruhe tritt erst ein, als nach dem endgültig letzten Vorhang ein distinguierter Herr im schwarzen Anzug auf Bühne tritt.
"Meine Damen und Herren," beginnt er, "wie Ihnen sicherlich bekannt ist, gibt es für unseren Bühnenverbund seit der vergangenen Spielzeit nurmehr ein gemeinsames Orchester. Heute abend spielt man an unserem anderen Haus ‚Tosca' von Puccini. Wir werden daher jetzt eine Pause von drei Stunden machen und erwarten Sie, verehrtes Publikum, dann um 22.00 Uhr zum zweiten Teil unserer heutigen Aufführung der ‚Meistersinger' zurück."

Der Sänger, der an diesem Abend die Partie des Hans Sachs übernommen hatte, schaltet müde den Lautsprecher in seiner Garderobe aus und greift nach seinen Noten.
"Wahn, Wahn, überall Wahn..." steht dort geschrieben.

Spar-Wahn.

Cara O. Parigi