Die engagierte Neuköllner Oper, Berlins viertes Operhaus, brachte im unvollendeten U-Bahnhof Reichstag die erste deutsche Oper zur Uraufführung, die sich einer lebenden aktiven Person aus der Politik annimmt. Komponist Frank Schwemer hat ein Libretto von Michael Frowin vertont, welches auf das Buch "Das Mädchen und die Macht - Angela Merkels demokratischer Aufbruch" von Evelyn Roll zurückgeht.

Schwemers Musik ist zitatenreich, ironisch und spritzig. Atonalität wird vermieden, manchmal erinnert die Art der Führung der Stimmen an Janacek. Das Orchester ist klein besteht aus zehn Personen in der Besetzung Klavier, drei Celli, Kontrabaß, vier Saxophone von Sopran bis Bariton sowie umfangreichem Schlagwerk. Der Chor wird hauptsächlich solistisch geführt und ist mit acht Personen besetzt.

Der Text von Frowin zitiert aus Wahlkampfreden, Interviewfetzen, Parteiprogrammen, die so zusammengestellt sind, daß sie den ganzen alltäglichen Wahnsinn der Politik spöttisch beleuchten. In siebzehn Bildern wird der Weg Angela Merkel vom Mauerfall bis zur Kanzlerkandidatenkür gezeigt. Neben der Titelheldin selbst treten Schäuble, Koch, Westerwelle, Glos , Stoiber und ihre Bürochefin Beate Baumann auf. Ein einziges Manko muß man dem Stück zugute halten: auch als ausgewiesener Linken wird einem Angela Merkel entschieden zu sympathisch.

Die Location ist klug gewählt. Der nicht fertiggestellte U-Bahnhof Reichstag, Teil der nicht gebauten Kanzler-U-Bahn, eignet sich gerade für dieses Stück ausgezeichnet in seiner Gigantomanie, und wäre als Schauplatz für weitere Produktionen auch reizvoll. Das Bühnenbild von Tom MUSCH beschränkt sich auf einige Stühle, schaukästengleichen Gestellen sowie einem hässlichen Siebziger-Jahre-Teppich für Kongreßcentren. Die Bühne ist in zwei Teile gegliedert, unten, wo sich die Haupthandlung abspielt und 2,50 m darüber, wo das Orchester sitzt.

Regisseur Robert LEHMEIER führt seine Personen sorgfältig, durchaus mit Tempo und Witz sowie bemerkenswerter Lichtregie. Zudem bewegen sich die Darsteller so, daß man auch ohne Vorinformation die realen Vorbilder erkennen kann, ein Effekt, der von den Kostümen Markus MEYERs noch verstärkt wird.

In der Titelrolle ist Kathrin UNGER (Sopran) zu hören. Sie verfügt über eine gut durchgebildete Stimme, schont sich nicht, auch die geforderten Stimmungswechsel stehen ihr zur Verfügung, nur in den Extremhöhen wird die Stimme etwas schrill. Der Mezzo von Regine GEBHARDT als Beate Baumann ist dagegen absolut tadellos. Die Stimme lässt aufhorchen, auch die Darstellung der einzigen Figur, die nicht jeder aus den Nachrichten kennt, war interessant: treusorgend, aber gleichzeitig fordernd, ihre Chefin zum Weitermachen drängend.

Bei den Herren beeindruckte der Bariton Dieter GOfFING als Schäuble nicht nur durch die souveräne Beherrschung des Rollstuhls, sondern auch durch eine differenzierte Stimmführung mit schönen Pianophrasen. Er vermochte sogar Mitleid zu erwecken, als er seine Ämter verliert. Christian GYGAS als tenoraler Westerwelle spielt und singt das Modell Guido mit Rotwein und Entertainment hinreißend und sichtlichem Spaß.

Michael BIELEFELDT als Roland Koch ist vom Komponisten mit grellen Tenortönen versorgt worden, die der Sänger meistert, ohne dabei die charakteristische Mundhaltung des Hessen auch nur einmal aufzugeben. Michael Glos singt mit dem Baß von Joachim FUCHS, der allerdings leichte Unsicherheiten hören lässt, da er sein Vibrato nicht völlig im Griff hat. Als Figur aber überzeugt er. Gleichzeitig obliegt ihm die Aufgabe, Edmund Stoibers (Stephan KORVES in einer Sprechrolle) Sprachrohr zu sein. Letzterer spricht wenig, und wenn er etwas sagt, dann kommen Platitüden heraus, die jedoch hingebungsvoll herausposaunt werden.

Der Chor verdient es, ob des solistischen Potentials namentlich genannt zu werden: Anna STEIGENBERGER, Irene WOHLFAHRT, Susanne FELTEN, Jens GÜNTHER, Philip LÜSEBRINK, Tobias HEINRICH, Frank BAUSZUS und besonders positiv auffallend Lara-Sophie MILAGRO.

Hans-Peter KIRCHBERG leitete die Vorstellung samt ambitioniert spielendem ORCHESTER umsichtig und ohne Wackelkontakte, was aufgrund der Tatsache, daß größtenteils der Kontakt zu den Solisten via Bildschirm gehalten werden mußte, schon für bemerkenswerte Übersicht spricht.

Das Fazit dieser heftig bejubelten Uraufführung: Die Neuköllner Oper hat einen echten Hit gelandet. Noch bis 22. September 2002 steht das Stück auf dem Spielplan, und diese Chance, das Stück zu sehen, sollte man sich nicht entgehen lassen. MK