"Aus einem Totenhaus" - 14. Oktober 2011

So hätten sich die Ritter der Tafelrunde gefühlt, wenn sie kurz nach Beginn ihrer Suche und ein paar falschen Orten direkt den Heiligen Gral gefunden hätten - sicher, er hat ein paar Kratzer und ein größerer Edelstein fehlt, aber es ist möglicherweise das Ähnlichste zum Heiligen Gral, was zu finden ist.

In anderen Worten - "Aus einem Totenhaus" in Berlin war das beste "Totenhaus", was ich bisher gesehen habe, und ich habe in den meisten Punkten Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie man es noch verbessern könnte.

Zuerst sollte vielleicht erwähnt werden, daß es sich nicht um eine Neuinszenierung handelt. Diese Version des "Totenhauses" von Patrice CHÉREAU wurde 2007 bei den Wiener Festwochen das erste Mal in dieser Form und mit (größtenteils) der selben Besetzung aufgeführt, besuchte dann mehrere Festivals, ist als Einzige auf DVD erhältlich und landete schließlich für viel zu wenige Vorstellungen in der Berliner Staatsoper. Als eingefleischter "Totenhaus"-Fan besitze ich diese DVD, und es spricht sehr für Musik und Inszenierung, daß es ihnen gelang, mich, obwohl sie mir größtenteils bekannt waren, so sehr vom Hocker zu reißen.

Das beginnt beim Bühnenbild (Richard PEDUZZI), das eigentlich nur aus einigen riesigen, grauen Mauern besteht, deren oberes Ende nicht zu sehen ist. Wenn diese mal den Blick auf den hinteren Teil der Bühne freigeben, sorgt man mit Nebel dafür, daß man immer noch nicht weiter gucken kann. Das Gefühl von Eingeschlossenheit und Aussichtslosigkeit (auch im wörtlichen Sinne) ist überwältigend.

Die Kostüme (Caroline de VIVAISE) sind allgemein genug, daß dieser Inszenierung tatsächlich gelingt, was so viele andere versucht haben - glaubhaft zu vermitteln, daß sie überall und zu jeder Zeit spielen könnte. Die Sträflinge tragen, was von ihrer Zivilkleidung noch übrig ist, die Wachen grüne Soldatenuniformen. Einziger Punkt, der mir nicht so sehr zusagt: Cerevin, Cekunov und Šiškov treten als eine Art Kapo auf; sowohl vom Kostüm als auch vom Verhalten her. Auch werden die Zeilen, die eigentlich von der Wache gesungen werden, auf Cerevin und Šiškov verteilt, was ich einfach als unpassend empfand.

Der Adler darf in dieser Inszenierung ein Adler bleiben, und es hat mich ja schon fast erschreckt, als ich gemerkt habe, dass dies meine erste Inszenierung ist, in der das so war. Das Ende wird in so weit abgewandelt, als daß der Adler nur scheinbar freigelassen wird - hinter dem Rücken der ihm nachschauenden Sträflinge verstecken der große und der alte Sträfling den Vogel wieder. Nicht vorbildskonform, aber auch nicht schlecht.

Ein interessanter Einfall war außerdem, die Übertitel mitten ins Bühnenbild zu projizieren, möglichst dorthin, wo die Handlung gerade spielt. Das gelingt zwar nicht immer, gerade in Chorszenen, aber der Gedanke gefällt mir. Stellenweise ist es leider auch störend oder sogar ablenkend, aber ich sehe ein, daß ich zu den wenigen textkundigen Zuschauern gehören dürfte, und es ist allemal besser, als wenn sie das Stück in einer Übersetzung aufgeführt hätten.

Dennoch nehmen einem die Übertitel ein wenig die Möglichkeit, auch auf den hinteren Teil der Bühne zu achten - und dort passiert immer etwas. Eine ganze Reihe von Hauptdarstellern ist eigentlich ständig irgendwie präsent und fällt im Hintergrund auf. Doch auch im CHOR profiliert sich eine ganze Reihe von Sängern durch ihr Schauspiel. Leider hat mir auch längeres Google-Stalking nicht verraten, auf welche Namen die Sänger hören, die mir am stärksten auffielen. Deswegen geht hier ein Lob an die Müllerin, den jungen Mann mit dem kurzen, blonden Pferdeschwanz, sowie denjenigen, den er am Anfang des dritten Akts ins Krankenhaus trug.

Weiter geht es mit der STAATSKAPELLE BERLIN unter Sir Simon RATTLE, die mir mal wieder gezeigt hat, wie ein gutes Orchester zu klingen hat. Kaum zwanzig Sekunden nach Beginn der Ouvertüre hatten mich die Musiker in den Bann gezogen. Und das ließ nie nach. Das Orchester, bei Janácek schon immer mehr als reine Untermalung, wird hier schon fast zur handelnden Person, so ausdrucksvoll ist der Klang. Rattle setzt viele eigene Akzente und das sehr wirkungsvoll. Ich kann mit Bestimmtheit sagen selbst auf Aufnahmen noch niemals eine so großartige "Totenhaus"-Ouvertüre gehört zu haben.

Meine Begeisterung für den Staatsopernchor unter Eberhard FRIEDRICH wurde dadurch getrübt, daß er öfter per Lautsprecher in den Zuschauerraum übertragen wurde. Möglicherweise liegt das an den Möglichkeiten des Schillertheaters, aber es war auf jeden Fall störend, da die Lautsprecher zu laut waren und einige Male übersteuerten. Dafür war das einzige ausschließliche Chorstück ("Neuvidi oko jíž"), das zudem auch auf der Bühne gesungen werden durfte, einfach hinreißend.

Um meine wenige Kritik an den Sängern möglichst schnell hinter mich zu bringen, beginne ich mit dem Einzigen, der mir wirklich nicht zugesagt hat: John Mark AINSLEY als Skuratov. Ständig geht er im Orchester unter, und einige seiner Töne klangen einfach nur gequetscht, andere flach. Ich hoffe, es sagt nichts über Ainsley selbst aus, daß er dafür einen ausgesprochen überzeugenden Geisteskranken auf die Bühne brachte. Auf schauspielerischer Seite war ich begeistert.

Auch Jirí SULŽENKO als der Platzkommandant kann nicht vollständig überzeugen. Seine Leistung schwankt von einem Moment zum nächsten. Während er eine Zeile mit so triefender Gemeinheit singt, daß einem selbst als Zuschauer angst und bange wird, kann bereits die nächste schwächlich klingen. Da sein Schauspiel allerdings durchgängig ausgezeichnet ist, nüchtern wie betrunken, ist der Gesamteindruck doch positiv.

Stephan RÜGAMERs Cerevin gehört zu den etwas unauffälligeren Erscheinungen des Abends. Er war auf keinen Fall schlecht, aber neben einem ausgezeichneten Šiškov einfach nicht ausreichend bemerkenswert.

An der Besetzung der kleinen Rollen ist nichts auszusetzen: Arttu KATAJA (der Pope), Alfredo DAZA (der Koch), Florian HOFFMANN (der betrunkene Sträfling) und Olivier DUMAIT (der junge Sträfling und die Stimme hinter der Bühne) machen ihre Sache allesamt ausgezeichnet. Dumait konnte vor allem am Anfang des zweiten Akts als eben jene Stimme glänzen. Nur Susannah HABERFELD als Dirne gefiel mir weniger gut; ich empfinde ihre Stimme nicht als sonderlich angenehm.

Ales JENIS und Marian PAVLOVIC als Don Juan und Kedril machen sich in den beiden Stücken wirklich gut, aber im Gegensatz zu vielen anderen Sängern sind sie außerhalb ihres großen Auftritts auf der Bühne nicht wiederzufinden.

Heinz ZEDNIK paßt die Rolle des alten Sträflings wie angegossen. Leider hört man ihm das auch an, denn seine Stimme zeigt deutliche Alterserscheinungen und erinnert an staubige Museumsräume. Trotzdem hat seine Stimme noch eine erstaunliche Tragweite.

Ján GALLA bringt einen imposanten Cekunov auf die Bühne. Auch er ist immer präsent, es hat mir, z.B. ausgesprochen gut gefallen, daß er und Luka sich bereits im zweiten Akt ständig streiten. Außerdem verfügt er über einen beeindruckend sonoren Baß.

Eric STOKLOSSA paßt stimmlich wie äußerlich einfach nur ausgezeichnet in die Rolle des Aljeja. Es braucht hier keine Sopranstimme, damit Aljeja wie das einzige Kind unter den Sträflingen wirkt. Auch seine Bühnenpräsenz ist ausgezeichnet, und das obwohl oder vielleicht gerade weil Aljeja sich eigentlich Mühe gibt nicht aufzufallen.

Peter HOARE spielt Šapkin eigentlich genau so, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe; mit einem bißchen Witz, aber nicht zu clownesk; er nimmt der Rolle nicht ihre tragische Seite. Auch stimmlich weiß er zu gefallen; die für einen Tenor sehr tiefen Töne, in denen er die Sprechtexte des Polizisten wiedergibt, klingen nicht mal ansatzweise gebrummt.

Vladimír CHMELO singt den kleinen Sträfling mit fast ständiger Aggressivität auf sehr passende Art. Seine rauhe Stimme paßt ebenfalls sehr gut zur Rolle. Daher haben mich seine wenigen Zeilen in der Adler-Szene des ersten Akts umso mehr beeindruckt, die auf einmal sanft klangen und mich spontan an Schokoladensoße denken ließen.

Whillard WHITE (Gorjancikov) nennt einen beeindruckenden, fast schon erschlagenden Bariton sein eigen. Ohne Schwierigkeiten übertönt er im letzten Akt den immerhin per Lautsprecher übertragenen Chor. Man könnte danach meinen, daß ihm die lyrischen Stellen weniger gut gelingen würden, aber Fehlanzeige. Seine Gespräche mit Aljeja klingen sanft und einfühlsam.

Enttäuschend ist, daß Peter STRAKA dieses Mal "nur" den großen Sträfling singen durfte - sein Skuratov in Zürich war immerhin ausgezeichnet. Er hat eine unglaublich kräftige Stimme, die selbst bei hohen Tönen noch eine beeindruckende Fülle besitzt. Er singt mit genau der Energie und Kraft, die ich bei Ainsley vermisse, und so bleibt mir diese Besetzungsentscheidung völlig unverständlich.

Roman TREKEL singt einen ausgesprochen verzweifelten Šiškov und das sehr überzeugend. Die Texte wurden hier etwas uminterpretiert; Šiškov will Cerevin, der sich erst nach und nach dafür interessiert, unbedingt seine Geschichte erzählen; er muß sich aussprechen, muß diese Last endlich loswerden. Und genauso erzählt er, mit sicht- und hörbarer Verzweiflung, die sich im Wiedererkennen seines Rivalen eindrucksvoll entlädt. Stimmlich hat er einen beeindruckenden Umfang und variiert mühelos zwischen dramatischen und lyrischen Zeilen.

Und schließlich das Beste zum Schluss: Štefan MARGITA als Luka Kuzmic/Filka Morozov. Ich fand ihn bereits auf der DVD klasse, aber live ist er noch so viele Male besser. Margita fällt nicht einen Moment aus der Rolle; selbst wenn er im Hintergrund sitzt und eigentlich gerade nichts zu sagen hat, fällt er auf. Sein Gesang ist so ausdrucksvoll, daß man zusammen mit seinem Spiel eigentlich gar keine Texte mehr bräuchte. Mir fehlen die Worte, um den Gemütszustand zu beschreiben, in den mich seine "Arie" versetzte; am Ende saß ich schluchzend da aus lauter Emotionsüberschuß. Der geneigte Leser möge sich einfach vorstellen, wie er/sie sich fühlen würde nach dem besten anzunehmenden Vortrags des eigenen Lieblingsstücks.

Was kann ich abschließend sagen? Ich könnte ewig weiterschwärmen, wenn mir nicht langsam die Synonyme für "großartig" ausgehen würden! NG