"LA VERGINE DEI DOLORI" - 10. Juli 2008

Alessandro Scarlatti (Palermo 1660 - Neapel 1725) ist der wirkliche Begründer der Neapolitanischen Oper - er hat immerhin weit über hundert geschrieben, neben zahllose Messen, Kantaten, Oratorien und Sonaten. Von seinen zehn Kindern wurden zwei Söhne berühmt, der Organist von Santa Maria Maggiore Pietro Filippo und der Cembalist Domenico, der auch ein paar Opern geschrieben hat und hauptsächlich in Madrid tätig war. Domenico Scarlattis Sonaten wurden vor etwa fünfzig Jahren von Ralph Kirkpatrick herausgegeben und bekannt gemacht. Seither werden dessen Werke mit einer "K(irkpatrick)" Nummer versehen. Vater Alessandro wirkte vor allem in Neapel, aber auch in Rom, Florenz und Venedig. In Rom war er u. a. maestro di capella der exilierten Königin Christine von Schweden und später des Kardinals Ottoboni. Von Allessando Scarlattis Opern hat René Jacobs "Mitridate Eupatore" vor etwa zehn Jahren beim Barock-Festival in Innsbruck aufgeführt und kürzlich in Berlin und Paris "La Griselda". Auch einige Oratorien sind in den letzten Jahren wieder ausgegraben worden.

Die Geschichte des Oratoriums in Rom nach 1700 ist einigermaßen ungewöhnlich. 1703 fand in Mittelitalien ein großes Erdbeben statt. Dabei wurde u. a. Norcia in Umbrien völlig zerstört, aber Rom größtenteils verschont. Papst Clemens XI verhängte daraufhin für fünf Jahre ein Carnaval-Verbot, d. h. keine Opern. Denn in Italien wurden Opern immer für den Karneval komponiert, selbst noch zu Rossinis Zeiten. Die Opern-Komponisten verlegten sich daraufhin auf religiöse Themen, vornehmlich Oratorien. Drei Jahrzehnte später handelte Händel in England, als die Puritaner an die Macht kamen, genau so. In beiden Fällen handelt es sich um sehr virtuose dramatische Werke. Die selben Tenöre und Kastraten, die sich vorher in den Opern produziert hatten, sangen vor dem Kirchenadel nun Oratorien, den Kardinälen Ruspoli, Pamphili, Ottoboni usw. Die Kardinäle griffen oft selbst zur Feder, um die Texte zu schreiben!

Der italienische Musikologe und Dirigent Rinaldo ALESSANDRINI hatte die ausgezeichnete Idee, diese total vergessene Musik hinter den Spinnweben der italienischen Bibliotheken zu suchen, zu bearbeiten und 2005 für das Teatro San Carlo in Neapel wiederzubeleben. Nach Aufführungen in Neapel, Brüssel und Paris ist die Produktion nun auch in Bordeaux gezeigt worden.

Über das 1717 komponierte Oratorium weiß man nicht viel: der Uraufführungsort ist nicht sicher (es wird gemunkelt, daß es ein Privattheater in Florenz oder Rom sein könnte oder die Kathedrale von Salerno) und ist vermutlich seither nie mehr gespielt worden. Das Libretto ist möglicherweise von Scarlatti selbst nach Metastasios "Passione" adaptiert worden. Ein sehr pietistischer Text, eher mühsam, jedoch szenisch interessant, weil die Ereignisse der Passion sozusagen von außen wie eine Reportage berichtet werden. Es gibt weder einen testo, wie bei Monteverdis "Combattimento", noch einen Evangelisten, wie später bei Brockes oder Bach. Um die zentrale Figur Marias (Alt), die um ihren Sohn Jesus trauert, berichten drei Personen die Ereignisse, San Giovanni (Sopran), Nicodemo (Mezzo) und der Hohepriester Onias (Tenor). Maria kommentiert die Hiobs-Botschaften: das ganze Oratorium ist ein zweistündiges Lamento mit verteilten Rollen, die die Aktion beleben.

Anfangs stand ich der Inszenierung eines Oratoriums etwas skeptisch gegenüber, zumal ja Alessandro Scarlatti weit über hundert Opern in seinem Register hat. Doch die deutsch-französische Regisseurin Ingrid von WANTOCH REKOWSKI hatte die ungewöhnliche Idee dieses Werk in einen "lebenden" Rahmen eines Barockaltars hinein zu inszenieren. Sie inspirierte sich dabei bei dem neapolitanischen Barockmaler Francesco Solimena (1657-1747), sehr typisch für den barocken Manierismus (das Wiener Kunsthistorische Museum besitzt ein halbes Dutzend Bilder von Solimena).

Die Sänger in dunklen Anzügen "spielen" auf einer kleinen Bühne in diesem Rahmen, der aus vierzehn käfig-artigen Abteilungen besteht, in denen achtzehn Schauspieler-Statisten der Schauspielschule "La Manufacture" aus Lausanne in entsprechenden Barock-Kostümen verschiedene biblische Szenen mimen. Interessant ist, daß diese Statisten auf Musik und Text agieren und sich bisweilen sehr brüsk bewegen. Die Szenographie wurde von Nicola RUBERTELLI ausgeführt und die Kostüme stammten von Christophe PIDRÉ. Mario D'ANGIO beleuchtete äußerst treffend diese belebte Altar-Szenerie, die äußerst eindrucksvoll ist und dem einigermaßen eintönigen Text Leben gibt.

Musikalisch wechseln da capo Arien, Duette, selbst ein Quartett, mit Rezitativen ab, alle in A-B-A-Form, sehr ähnlich von der damals üblichen Opernform. Das kleine Streichorchester mit Theorbe und Orgelpositiv wird in manchen Arien von einer Blockflöte oder einer Oboe solistisch begleitet. Eine Trompete dient zur Belebung der Hiobs-Botschaften und der martialischen unfreundlichen Ausbrüche des Onias, der sehr bösartig den politischen Agitator Jesus verteufelt. Was natürlich ebenso scharfe Antworten von Johannes und Nicodemus bewirkt, die die Sturheit der gläubigen Juden und die Nichterkennung des Messias anprangern. Ein politisch sehr gewagtes Thema, sehr en vogue während der Gegenreformation.

Die vier Sänger waren allerdings etwas benachteiligt, da sie in der knapp fünfzehn Quadratmeter großen Spielfläche des Altarbilds nur wenig agieren konnten. Natürlich fand auch eine leichte akustische Dämpfung statt. Die dominierende Leistung war die Maria von Sara MINGARDO, die dem Schmerz der leidenden Mutter Ausdruck verlieh. Ihr prachtvoll samtener, wunderbar geführter Alt vermittelte sehr intensiv das Leid der Mutter in diesem langen Lamento. Anna SIMBOLI sang San Giovanni mit klarem, etwas spitzem Sopran, eher eine Soubretten-Stimme. Romina BASSO gab dem Nicodemo intensiven Ausdruck mit ihrem schönen Mezzosopran um die schlechten Nachrichten mit Bedauern der Jungfrau Maria zu überbringen. Der Hohepriester Onias ist hier der "Böse", dem Daniele ZANFARINO seinen wohlklingenden Tenor lieh. Er stellte die religiöse Sturheit sehr passend dar, in dem er sich mit gekreuzten Armen vor Maria hinstellte und ihr Vorwürfe machte.

Das Kammerorchester Concerto Italiano und Dirigent Rinaldo Allessandrini sind hörbar mit dieser Musik sehr vertraut. Das italienische Ensemble musizierte mit großer Begeisterung und Einsatz. Der stürmische Beifall am Schluß galt nicht nur den Sängern und Schauspielern, sondern auch sehr dem Orchester. Es war sicher die ungewöhnlichste Produktion, die ich je gesehen habe, die den heute unverdaulichen Text in origineller Weise einem modernen Publikum schmackhaft machte und ermöglichte, diese wunderschöne Musik kennen zu lernen. Aber warum spielt man keine Opern von Alessandro Scarlatti? wig.

P.S.: Oratorien von sehr aktiven Opernkomponisten zu inszenieren, scheint eine neue Masche zu sein. Das kann aber auch schief gehen. Ein Schulbeispiel wie man ein Oratorium nicht inszenieren soll, war die Produktion von Christoph NEL in der Szenographie von Roland AESCHLIMANN von Händels prachtvollem Oratorium "Belshazzar" unter der höchst kompetenten musikalischen Leitung von René JACOBS. Die aus der Staatsoper unter den Linden in Berlin importierte Produktion wurde beim Festival in Aix-en-Provence gezeigt und am 23. Juli von ARTE direkt übertragen. Das Dilettantischste war wohl die Verwandlung der trauernden Juden im babylonischen Exil mit Kippa auf dem Haupt, die auf offener Szene sich sekundenschnell umdrehten und mit Weinranken bekränzten, um an Belshazzars Saufgelage teilzunehmen! Lächerlich! Händel hat ja auch mehrere Dutzend, nie gespielte, Opern geschrieben, die, wenn überhaupt, konzertant (als Oratorien!) gespielt werden!