"LE BALCON" - 23. November 2009 (Erstaufführung)

Vor etwa fünfzig Jahren waren Theater und Film stark vom Surrealismus beeinflußt. Paris war eines der Zentren dieses surrealistischen und absurden Theaters mit anarchistischen Untertönen, wo Ionesco, Arrabal, Beckett, Koltès, Bunuel, Genet und andere den Ton angaben. Aber die Dramaturgie einer Oper ist nicht dieselbe wie die eines Theaterstücks oder Films. Und das ist die größte Schwierigkeit, die Peter Eötvös in seinen Opern bewältigen muß. In anderen gesehenen Opern des ungarischen Komponisten ("Die drei Schwestern", nach Tschechows Theaterstück und "Angels in America", nach einem siebenstündigen Fernseh-Drama von Tony Kushner) ist eine übertragbare Dramaturgie vorhanden. Diese ist viel schwieriger in dem Stück von Jean Genet "Le Balcon" zu finden. Zumal der groteske Text an Brechts "Lehrstücke" denken läßt, aber nicht mit drohendem Zeigefinger, sondern verzweifelt über das Scheitern und Rekuperation der Revolution.

Nicht daß die höchst phantastische Atmosphäre störend wäre - phantastische Opern gibt es viele, aber zeigen oft ein dramatisches Defizit. Auch Revolutions-Opern findet man oft. Hier ist jedoch das dramatische Skelett des Stücks minimal. Peter Eötvös löste das Problem mit Erfolg. Die typisierten Figuren der bürgerlichen Gesellschaft (Bischof, Richter, Henker) sind grotesk und völlig eindimensional, ebenso wie die "Helden" der Revolution (Chantal, Roger). Einzig die Puffmutter Irma und der Polizeichef kann man als "menschliche Wesen" bezeichnen.

Peter Eötvös (geb. 1944) wurde mit vierzehn Jahren Schüler von Zoltán Kodály und János Viski an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest. Er improvisierte auf mehreren Instrumenten in Bars, Kinos und Film Studios. Er erhielt 1970 ein Stipendium, um mit K.-H. Stockhausen und B. A. Zimmermann in Köln zu studieren. Boulez rief ihn 1978 ans IRCAM nach Paris, um das Ensemble Intercontemporain zu leiten. Eötvös unterrichtete auch in Freiburg und Köln und war "Composer in residence" in verschiedenen Städten, u. a. sechs Monate lang in Osaka, wo er sich mit der klassischen japanischen Musik befassen konnte. Selbst als Dirigent bekannt, arbeitet Eötvös immer intensiv mit den Dirigenten und Regisseuren seiner Werke zusammen.

Die vielfachen Einflüsse, denen der Komponist ausgesetzt war, haben ihm einen entsprechend weiten musikalischen Horizont eröffnet. Deshalb verwendet Eötvös in der 2002 beim Festival in Aix uraufgeführten und 2004 revidierten Oper nicht nur die Musik seiner ungarischen Wurzeln von Kodály und Bartok bis Kurtag und die im IRCAM übliche Elektronik, sondern auch seine Erfahrungen seiner jungen Jahre in Kino, populärer Musik und Jazz. Sein Interesse für elektronische Musik und ungewöhnliche Klangverbindungen ist offenbar. Gleich am Anfang hatte ich "Gassenhauer für Orchester" und "Maschinengewehrfeuer hinter der Szene" notiert.

Für ein kleines Instrumental-Ensemble geplant, kommen Instrumentalisten auf die Bühne, alle mit einem beleuchteten Lampenschirm als Kopfbedeckung: eine mit Schalltrichter versehene Violine, eine Kontrabaß-Klarinette, ein Hornist auf einem Hochsitz und ein herum wandelnder Trompeter, der meist mit gestopftem Instrument spielt. Das Kammerorchester wird durch eine Hammond-Orgel und eine Harfe unterstützt. Sehr oft wird Sprechgesang verwendet, fast wie das Secco-Rezitativ in der vor-klassischen Oper. Der Gegensatz zwischen dem im Hintergrund brauenden Aufstand und der "gepflegten" Atmosphäre des Bordells "Le Grand Balcon" - wo Bischof, Richter und General ein- und ausgehen - ist bestimmend im dramatischen Aufbau der Oper.

Der Polizeichef ist der "Beschützer" des Bordells. Das Libretto von Françoise Morvan, André Markowicz und Eötvös selbst, arbeitet die Dichotomie zwischen "bürgerlichem Drama" und Revolution heraus, die mit dem Tod der Passonaria Chantal im 8. Bild seinen Höhepunkt findet und mit der Machtergreifung des Polizeichefs im 10. (letzten) Bild das Gegenstück.

Das schwierige Werk Eötvös' kommt sehr gut über die Bühne. Das ist der hervorragenden und ausnehmend kohärenten Aufführung zu verdanken, denn es ist selten, daß Bühne und Orchestergraben derartig perfekt verzahnt sind. Obwohl auf Französisch gespielt wurde, war klugerweise die ganze Oper übertitelt. Daß der Musikdirektor von Bordeaux, Kwamé RYAN, ein Schüler des Komponisten in Freiburg war, half natürlich. Er ist mit dem schwierigen Werk sichtlich und hörbar bestens vertraut. Ryan hat ausserdem mit schwierigen modernen Werken keine Schwierigkeiten: er hatte u. a. 2004 in der Pariser Bastille-Oper das Werk eines anderen Eötvös-Schülers uraufgeführt, Matthias Pintschers "L'espace dernier". Die 26 Musiker des ORCHESTRE NATIONAL BORDEAUX-AQUITAINE ließen sich von ihrem Chef mit offenbarer Begeisterung leiten.

Die gut durchdachte Inszenierung von Gerd HEINZ war maßgeblich für den Erfolg der Aufführung verantwortlich. Der deutsche Regisseur hat sich vornehmlich an die theatralische Seite gehalten, um die absurde Handlung mit viel Gefühl und Verstand dem Publikum zu vermitteln. Dabei war er von Stefanie SEITZ sehr wesentlich unterstützt, die für Bühnenbild und Kostüme zeichnete. Das Bühnenbild bestand aus einem großen, feuerroten und drehbaren Zylinder, der mehrere Aussparungen hat, z.B. ein großes rundes Fenster, das den Blick auf das Büro des Bordells freigibt oder eine riesige halbrunde Stiege, auf der im 2. Teil die Honoratioren auf- und abgehen. Ein wichtiges Versatzstück ist ein großer runder Spiegel, der den Herren vorgehalten wird oder in dem sie sich bewundern. Das Bühnengeschehen wurde vorteilhaft durch die kluge Beleuchtung von Eric BLOSSE unterstützt.

Die Sängerinnen waren durchwegs junge Künstlerinnen, während die Männer meist alte Routiniers waren. Die einzige wirkliche Hauptrolle ist die Bordell-Besitzerin Irma, die dann "Königin" wird. Die junge Schweizerin Maria Riccarda WESSLING gestaltete sowohl stimmlich als auch darstellerisch die Rolle souverän. Sie besitzt nicht nur einen gut geführten Mezzosopran, den sie sehr vorteilhaft in der schwierigen Rolle einsetzte, sondern sie spielte auch sehr klug die zweifelhafte Persönlichkeit. Ihre Sekretärin Carmen und Pensionistin des Puffs, mit der sie auch noch ein Verhältnis hat, wurde von der großen, hübschen und schön singenden Melody LOULEDIAN in feuerroter Bluse gesungen und sehr glaubhaft dargestellt.

Chantal, die Rädelsführerin der Aufständigen, die nur im 2. Teil auftritt, erhielt durch Magdalena Anna HOFMANN eine exemplarische Darstellung. Ihre große dramatische Stimme setzte sie bestens ein und spielte mit großem Einsatz. Da Chantal im 1. Akt nicht auftritt, wurden ihr auch die drei kleinen Rollen der Mädchen, die ihre Klienten im Bordell empfangen, anvertraut. Besonders als Diebin in der Konfrontation mit dem perversen Richter war sie sehr beeindruckend. In der Szene mit dem General trug sie einen stilisierten Pferdekopf, was diesen bewegte auf ihr reiten zu wollen!

Die Herren sind durchwegs Comprimarii, da sie nur je eine wirkliche Szenen haben. Der Polizeichef, Protektor und Freund Irmas, ist die zweite "tragende", aber nicht sehr große Rolle, der nach der Revolution im richtigen Augenblick die Macht an sich reißt. Jean-Manuel CANDENOT, den wir auch schon mehrmals hier erlebt haben, spielte und sang hervorragend den größenwahnsinnigen Arrivisten. Sehr eindrucksvoll war der hünenhafte Jacques SCHWARZ als Bischof, noch dazu mit einer riesigen Bischofs-Mitra gekrönt, der seinen großen schwarzen Baß gut einsetzte. Als grotesker perverser Richter punktete Julius BEST, der mit seinem hohen Tenor der lächerlichen Figur Statur verlieh.

Ein alter Bekannter war Armand ARAPIAN als General, der als eitler Hyper-Patriot seinen Ruf für ausgefallene Rollen bestens unter Beweis stellte. Als Chef der Aufrührer Roger war Thomas DOLLÉ mit warmem Kavalier-Bariton zwar ein hoffnungsloser Revolutionär, aber ein rührender Liebhaber Chantals. Ausgezeichnet was der Hofbote von Nigel SMITH, der den Tod der Königin in einer äußerst komischen Koloratur-Szene kommentierte. Als Henker und Zuhälter Arthur war Till FELLNER rollendeckend.

Selbst das eher konservative Publikum von Bordeaux war begeistert - obwohl auch ein paar Zuschauer in der Pause das Haus verlassen hatten. Ein riesiger Erfolg für alle Sänger und vor allem für Kwamé Ryan, der sehr gefeiert wurde. wig.