"LES ENFANTS TERRIBLES" - 20. November 2011

Erstaufführung

Philip Glass (geb. 1937) und Steve Reich (geb. 1936) sind die wichtigsten Komponisten der amerikanischen minimalistischen und repetitiven Musik. Nach Studium an der Julliard-School hat Glass zwei Jahre an der "Scola Cantorum" in Paris bei Nadia Boulanger studiert. Seine Technik der repetitiven Musik scheint bei erstem Hören sich endlos zu wiederholen, doch man bemerkt bald, daß winzige musikalische und rhythmische Veränderungen zu ganz anderen Übergängen, Themen und Entwicklungen führen. Nach einiger Zeit ist man richtig fasziniert von dieser Musik. Man muß aber sehr genau hinhören!

Das Textbuch ist nach dem gleichnamigen Roman von Jean Cocteau (1889-1963) adaptiert. Cocteau war einer der wichtigsten französischen Surrealisten des 20. Jahrhunderts. Und vor allem "Dichter" - eine Bezeichnung, auf der er fest bestand. Ob Romane, Film-Drehbücher ("Orphée", "La Belle et la Bête", "L'éternel retour"), Theaterstücke, Libretti für Opern ("Oedipus Rex") oder Ballette ("Parade"), nannte er alle seine Werke "Poésie". Er hatte auch Einfluss auf die Werke anderer, vor allem die Gruppe "Les Six", aber auch auf Maler, wie Picasso oder die Parfum- und Modeschöpferin Coco Chanel. Seinen Roman "Les Enfants terribles" (1929) adaptierte er bereits 1950 für einen Film von Jean-Pierre Melville. Eine Theaterschule in Paris ist nach dem Roman "Les Enfants terribles" benannt.

Philip Glass hat mit Susan Marshall Cocteaus Roman als Operntext adaptiert. Die Schwierigkeit war das für Cocteau typische Gleichgewicht zwischen Realität und Traumwelt beizubehalten. Die 80-Minuten Kammeroper wurde 1996 im Kasino-Theater in Zug (Schweiz) uraufgeführt und verwendet als musikalisches Aufgebot einzig drei Klaviere und drei Sänger und einen Sprecher - Sänger. Daß Cocteau ein langjähriger Opium-Raucher und homosexuell war, muß man in seinem Werk berücksichtigen. Die Geschichte läßt in ihrem skurrilen Inhalt, Rahmen und den Hauptpersonen (zwei Halbwüchsige) am ehesten noch an Brittens "Turn of the Screw" denken.

Die reichlich morbide Geschichte spielt in der großen Pariser Wohnung der Geschwister Elisabeth (17) und Paul (15), die eine ausschließliche gegenseitige Bewunderung, eine fast inzestuöse Haßliebe verbindet, was bewirkt, daß sie zwar unzertrennlich sind, aber auch ständig streiten. Sie leben in einer morbiden Traumwelt, die von Symbolen gelenkt wird, die nur ihnen bekannt sind. Ihr Zimmer ist ein "Heiligtum", mit einem "Altar" und einer Metallschachtel, dem "Schatz", dessen Inhalt und Sinn nur die beiden Geschwister kennen, die allen möglichen Kram beinhaltet, u. a. tote kleine Krebse und eine Pistole. Sie haben auch bestimmte Riten, die nur sie verstehen: so hypnotisieren sie sich oft gegenseitig.

Die Oper beginnt mit einer Schneeball-Schlacht, in der Paul durch Dargelos, einem von Paul bewunderten Schulfreund, verwundet wird. Ein anderer Freund, Gérard, bringt Paul nach Hause. Elisabeth, die in der Zwischenzeit die kranke Mutter pflegte, beschimpft beide fürchterlich. Man glaubt, daß der Bruder sterben wird, doch der hypochondrische, schwächliche Paul erholt sich. Die Mutter stirbt, und die Geschwister sind sich selbst überlassen. Nach einem weiteren Streit will Elisabeth ausziehen und selbst Geld verdienen. Paul macht sich natürlich über sie lustig. Gérard findet ihr einen Job in einem Modehaus, wo sie durch Gérards Bekannte Agathe als "Mannequin" eingeführt und ausgebildet wird. Durch Gérard lernt Elisabeth auch einen reichen Amerikaner, Michael, kennen. An der Côte d'Azur heiratet sie ihn. Er stirbt jedoch am Tag darauf, ohne daß die Ehe konsumiert wurde (Michael stirbt auf derselben Strasse zwischen Cannes und Nizza und auf die selbe Weise wie die damals berühmte Tänzerin Isadora Duncan, die 1927 von ihrem langen Schal erdrosselt wurde, der sich in den Radspeichen ihres Kabrioletts verfangen hatte. Cocteaus Roman erschien 1929!).

Elisabeth erbt Michaels Vermögen, u. a. ein großes Jugendstil-Palais, wo auch Paul mit dem "Schatz" einzieht. Gérard und Agathe gesellen sich ebenfalls dazu, in je einem der 18 Zimmer dieses riesigen Hauses ein. Agathe sieht Dargelos zum Verwechseln ähnlich, und Paul verliebt sich natürlich in sie, fürchtet sich aber, sie anzusprechen. Und vice-versa gilt dies für Agathe Paul gegenüber. Als Elisabeth dies erkennt, fürchtet sie ihren Bruder zu "verlieren" und spinnt einen machiavellischen Plan, wie eine Parze in einer griechischen Tragödie. Wie in jeder Tragödie endet dies in einer Katastrophe. Sie entlockt beiden das Geheimnis ihrer Liebe, zerstört aber Pauls Brief (per Rohrpost an Agathe gesandt!), bevor er in Agathes Hände fällt. Ihr Versuch, Agathe mit Gérard zu verkuppeln, scheitert, denn es fehlt den beiden sichtlich die Lust dazu…

Von einer Reise zurück, erzählt Gérard, daß er Dargelos in Marseille getroffen habe und dieser ihm zwei Knollen indischen und chinesischen Gifts gegeben hat. Das Zeug stinkt scheußlich, aber Paul riecht fest daran und verfällt in eine tiefe Ohnmacht, ebenso wie Agathe und beide sterben daran. Schließlich erschießt sich Elisabeth mit dem Revolver aus dem "Schatz". Der Schluß ist ziemlich schwierig zu verfolgen, da Elisabeth in einem hysterischen Anfall in einem parlando Wortschwall prestissimo singt, den Gérard als Sprecher kommentiert.

Dem Direktor der Oper in Bordeaux kann man einiges an Mut attestieren, dieses ungewöhnliche Werk aufs Programm gesetzt zu haben. Direktor Thierry Fouquet führt dies jede Saison mit Ausdauer und Erfolg aus (im Vorjahr "Die Schule der Frauen" von Liebermann). Als Co-Produktion mit dem Teatro Arriaga in Bilbao wurde die Kammeroper in Bordeaux kreiert (Vorstellungen sind im Dezember auch in den Kleinstädten Agen und Bergerac vorgesehen!). Die Aufführung war ein durchschlagender Erfolg, dank eines außergewöhnlich zusammen passenden Teams.

Die musikalische Leitung hatte Emmanuel OLIVIER inne, der selbst vom 1. Klavier dirigierte. Der Regisseur Stéphane VÉRITÉ zeichnete für Inszenierung, Bühne und Beleuchtung. Die szenische Behandlung der Bühne war ungewöhnlich geschickt und gekonnt gemacht. Mittels kluger Beleuchtung und der geschickten Verwendung von überlegten Video-Projektionen von Romain SASSO, konnte Stéphane Vérité die jungen Sänger durch das Dickicht der morbiden Handlung leiten, ohne daß die kleinste Tendenz zum Outrieren aufkam. In diesem Rahmen konnten sich die durchwegs jungen Sänger, dank einer beispielhaften Personenführung, sehr vorteilhaft dem Publikum vorstellen. Die hübschen, einfachen Kostüme von Hervé POEYDOMENGE trugen zum Erfolg der Aufführung bei und ergaben sehr gelungene Bilder.

Die 1. Szene der Schneeball-Schlacht taucht den Zuschauer gleich zu Beginn in die traumhafte Atmosphäre der Oper, dank eines wunderbaren Videos, das bereits während des Vorspiels beginnt. Das "Heiligtum" ist ein großes Zimmer mit projizierter gotischer Decke, zahlreichen Ausschnitten von Film-Illustrierten an der Wand als "Altar" und davor die beiden Betten. Die Heirat und der Unfall Michaels werden sehr anschaulich während einer Zwischenmusik in einem dezenten Video eines schwarz-weissen Schattenspiels auf einen großen Spiegel projiziert. Die Szene im Stadtpalais spielt vor einer imposanten Glasveranda mit einigen Luxusmöbeln, während Elisabeths "Status-Wechsel" mit einem raffinierten goldenen Mantel angedeutet wird.

Die wichtigste Rolle ist natürlich die ältere Schwester Elisabeth, die Drahtzieherin der Geschichte, von Chloé BRIOT (ganze 24 Jahre alt) mit schöner Stimme und unglaublicher Ausdruckskraft einfach hinreißend gestaltet. Vor allem das parlando am Schluß - man muß an Monteverdi denken - beherrschte sie absolut perfekt. Ein großes Talent! Ihr jüngerer hypochondrischer Bruder Paul, der hauptsächlich im Bett herum lümmelt, war Guillaume ANDRIEUX und ist nur drei Jahre älter. Sein angenehmer Bariton zeigte sich der recht undankbaren Rolle völlig gewachsen. Man hatte irgendwie Mitleid mit ihm, der von der schimpfenden älteren Schwester ständig schikaniert wird.

Elisabeths ungewollte Gegenspielerin Agathe, die dem vergötterten Schulfreund Dargelos so ähnelt - den sie im 1. Bild spielt - war durch Amaya DOMINGUEZ vorteilhaft verkörpert, eine attraktive Mezzosopranistin mit schöner runder Stimme. Mit großer Zurückhaltung spielte sie die Liebesängste der jungen Frau. Olivier DUMAIT fungiert als der antike Chor der griechischen Tragödie, denn er interveniert meist als Sprecher, der die Handlung kommentiert. Und gerade diese Kommentare waren nicht übertitelt. Das war ein Fehler, denn ohne Verstärkung war er schwer verständlich, besonders wenn die drei Pianisten in ffff auf ihre Steinways dreschen. Er zog sich aber sehr gut aus der Affäre, wenn er seinen angenehmen Tenor als Gérard verwendete.

Die drei Pianisten waren der musikalische Leiter des Abends, Emmanuel Olivier, sowie die lokalen Korrepetitoren Jean-Marc FONTANA und Françoise LARRAT. Alle Achtung! Man kann jedem Haus nur wünschen, solche Künstler als Korrepetitoren zu haben! - Eine äußerst gelungene Aufführung eines ungewöhnlichen Werks, das noch dazu vom Publikum mit großem Beifall aufgenommen wurde! Denkwürdig! wig.

P.S.: Die Oper wurde von Radio France aufgenommen und am 15. 12. von France Musique im Rundfunk gesendet.