"DIE PASSAGIERIN" - 31. Juli 2010

Um es gleich vorweg zu nehmen. Es gibt Aufführungen, bei denen alles stimmt. Aber von vorn.

Diesjähriger Schwerpunkt bei den Festspielen in Bregenz ist der fast vergessene polnisch-russische Komponist Mieczslaw Weinberg (1919-1996). Weinberg floh 1939 vor den Deutschen aus Polen nach Rußland, wo er mithilfe von Komponistenkollege Schostakowitsch eine zweite Heimat fand. Seine auch musikalisch große Nähe zu Schostkowitsch führte vielleicht aber auch zu seinem Vergessen. Ein Werk wie die 17. Symphonie ist zu dicht am Vorbild und zu wenig eindrucksvoll, um selbst bestehen zu können.

Völlig anders liegt der Fall bei Weinbergs Oper "Die Passagierin". Basierend auf der autobiographischen Novelle von KZ-Insassin Zofia Posmysz schuf Alexander Medwedew ein Libretto um die ehemalige SS-KZ-Aufseherin Lisa, die 1960, glücklich verheiratet mit einem BRD-Diplomaten, auf der Überfahrt nach Brasilien, auf eine ehemalige Insassin von Auschwitz trifft, Martha, die sie tot wähnt. Diese Begegnung zwingt sie zur Lebensbeichte ihrem Mann gegenüber, zur Konfrontation mit der Vergangenheit, deren Zeuge wir nun werden. Lisa versucht, ihre Taten zu rechtfertigen, von Reue und Einsicht keine Spur. Und auch ihr Ehemann ist erst entsetzt, dann aber um Schadensbegrenzung bemüht. Als die Schiffsband aber den Lieblingswalzer des Lagerkommandanten anstimmt, ist auch Lisa klar, daß es kein Entrinnen mehr gibt.

Holocaust-Themen in der Oper oder auf dem Theater sind schwierig, wenn sie aber auf Geschichten von Überlebenden basieren, menschlich drastisch ohne plakativ zu sein sind, kann es funktionieren wie hier. Es ist eindrucksvoll, wie die weiblichen Häftlinge, aus unterschiedlichen Kulturen, unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlichen Sprachen, eine Ebene der Menschlichkeit untereinander finden, die sogar die SS-Schergen verstört. Dementsprechend versucht sich Lisa zu rechtfertigen, die Häftlinge haben sie gehaßt, also haßte sie die Häftlinge. Welch eine Logik der Täter.

Michelle BREEDT als Lisa gebürt alle Hochachtung, sich dieser Rolle anzunehmen, die eine Gratwanderung darstellt, zwischen unmenschlicher Borniertheit und einem Willen, einfach nur zu leben. Schließlich war sie erst 20 Jahre alt damals, irgendwie selbst ein Opfer ihrer jugendlichen Begeisterung für die völlig falschen Werte. Keine Entschuldigung, aber ein Versuch der Erklärung.

Überhaupt ist die Besetzung ein Glücksgriff. Von Roberto SACCÀ als Lisas Ehemann Walter über die eindringliche Elena KELESSIDI als Martha, Svetlana DONEVA als russische Partisanin Katja, Liuba SOKOLOVA als ältere Gefangene Bronka, Helen FIELD als dem Wahnsinn verfallene Gefangene, Talia OR als junge Französin Ivette, Agneszieska REHLIS als jiddisch sprechende junge Jüdin, Angelica VOJE als Polin Krzystina oder Elzbieta WRÓBLEWSKA als Tschechin Vlasta überzeugt das gesamte Ensemble stimmlich wie darstellerisch.

Intendant David POUNTNEY ließ es sich nicht nehmen, selbst Regie zu führen und schuf eindringliche Bilder im Bühnenbild von Johan ENGELS, das oben das Deck eines weißen Ozeanriesen darstellt, mit weiß gekleideten Menschen (Kostüme Marie-Jeanne LECCA), und unten die oft gezeigten Schienenstränge von Auschwitz integriert mit Wagen und engen Schlafstätten.

Nicht zuletzt ist da Weinbergs Musik. Weinberg läßt immer der Stimme den Vorrang. Nie überdeckt er den Gesang, Textverständlichtkeit scheint ihm ein wichtiges Anliegen gewesen zu sein. Orchesterausbrüche gibt es nur an Stellen, wo die Stimme schweigt. Hier bietet es eine eigene Musiksprache, klingt gar nicht mehr nach Schostakowitsch, sondern findet seinen eigenen Klang. Einen starken Ton, der vielleicht als konservativ verbrämt wurde, aber der Geschichte bestens dient. Teodor CURRENTZIS am Pult der WIENER SYMPHONIKER macht das deutlich.

Diese Stück hat viele Aufführungen verdient, und diese Produktion wird zum Glück noch in Warschau, London und Madrid zu sehen sein. Leider hat Weinberg nicht einmal die konzertante Erstaufführung seines Werkes 2006 mehr erleben können, für ihn war Zofia Posmysz in den Aufführungen anwesend. KS