"ANATEVKA", - 12. Juni 2010 (Premiere)

Der Gedanke "Das kommt mir doch bekannt vor" ging mir an diesem Abend mehr als einmal durch den Kopf. Zu sagen, daß sich die Inszenierung von John DEW ein wenig von der Norman Jewison-Verfilmung inspiriert ist, wäre als würde man sagen, daß die Sonne ein klein bißchen hell ist. Natürlich ist der Gedanke nahe liegend, daß ein guter Film auch eine gute Vorlage ist, aber das macht komplettes Kopieren noch lange nicht zu einer guten Taktik. Das beginnt bei Kostümen (José-Manuel Vázquez) über Perückenfarben, Choreographie (Anthoula PAPADAKIS) bis hin zu großen Bemühungen mit der Maske, damit die Sänger denen im Film möglichst ähnlich sehen. Einer der wenigen Punkte, wo man sich Freiheit erlaubt hat, ist ausgerechnet der Wachtmeister, der - wie könnte es bei einer deutschen Inszenierung anders sein? - in einer stark an die SS erinnernden Uniform auftritt. Könnten wir das Städtchen Anatevka bitte in der Ukraine lassen?

Was leider nicht so leicht zu kopieren ist, ist das Talent der Filmdarsteller. Die größte Enttäuschung des Abends waren die drei Töchter. Anja VINCKEN als Tzeitel ist schlicht und einfach langweilig; sie singt ohne irgendeine erkennbare Begeisterung, als würde sie das, was auf der Bühne passiert, überhaupt nichts angehen. Margaret Rose KOENNs (Hodel) Problem ist eher der Sprechtext. Teilweise meistert sie das Sprachproblem gut, aber hin und wieder gab es Stellen, an denen sie sich viel zu sehr auf den Text konzentrieren mußte und völlig aus der Rolle fiel. Dafür singt sie ganz schön, aber ihre Stimme klingt stellenweise zu hart, um ein junges, verliebtes Mädchen zu spielen. Und schließlich Susanne SERFLING, die als Chavah wenig Möglichkeit hat, sängerisches Talent unter Beweis zu stellen. Leider macht sie sich nicht besonders als reine Schauspielerin; ihr Spiel wirkt größtenteils unecht. Da bei Erwachsenen die Körpergröße nicht mehr linear mit dem Alter verbunden ist, wäre es vielleicht eine Überlegung wert gewesen, diese Rollen nach Können statt nach Länge zu besetzen…

Glücklicherweise wird die Unfähigkeit der drei Töchter durch drei wesentlich überzeugendere Bräutigame wettgemacht. Lucian KRASZNEC gelingt eine wunderbare Darstellung des unsicheren Mottel und sein "Miracle of Miracles" war eine Freude, obwohl ich dieses Lied eigentlich nicht leiden kann. David PICHLMAIER fehlt ein bißchen der Fanatismus für Perchik, aber dafür ist die Szene, in der er Hodel einen Heiratsantrag macht, einfach nur wunderbar komisch. Seinem Gesang war der Opernsänger zwar mehr als deutlich anzuhören, aber das soll nicht weiter stören. Sven EHRKE hatte als Fedja glücklicherweise nur zwei Zeilen Gesang in "Lechaim", in denen er, außer russischer Aussprache, nicht viel falsch machen konnte. Und als Schauspieler macht er sich wesentlich besser.

Margaret Rose Koenn spielte gleichzeitig noch das Gespenst von Großmutter Tzeitel und war als solche wesentlich überzeugender. Das zweite Gespenst, Fruma Sarah, wurde von Bernd KAISER gespielt, der sich wirklich gut als schrill kreischende Schreckschraube machte. Überhaupt war "Tevyes Traum" eine der ausdrucksstärksten Szenen dieser Aufführung.

Etwas überzeichnet wurden der Rabbi (Lawrence JORDAN), sein Sohn Mendel (Stefan STEINBAUER) und die Heiratsvermittlerin Jente (Stephanie THEISS), aber ein Stück wie "Anatevka" hat ein bißchen Comic Relief auch bitter nötig. Und Steinbauers hysterisches "Ein Anarchist!" als Kommentar auf sämtliche Äußerungen Perchiks werde ich so schnell nicht vergessen.

Weiterhin war die gute Idee da, eine ganze Reihe kleinerer Rollen ebenfalls mit Schauspielern statt Sängern zu besetzen. Darunter zu leiden hatte nur "Das Gerücht", das größtenteils von Nebenfiguren gesungen wird. Hier war deutlich zu merken, daß nur wenige ausgebildete Sänger auf der Bühne standen. Etwas ärgerlich war der Versuch der meisten Darsteller, Deutsch mit jiddischem Akzent zu sprechen, da es nur Wenigen ansatzweise gelang (zum Beispiel Jente). Lazar Wolf (Malte GODGLÜCK) war hier eine angenehme Ausnahme. Überhaupt wirkt er als einer der wenigen Darsteller an diesem Abend natürlich, während sonst sehr viele zu aufgesetzt spielten.

Souverän an die Wand gespielt und gesungen, wurden jedoch alle ohne Ausnahme von Monte JAFFE (Tevye) und Monika MAYER (Golde). Beiden gelingt eine großartige schauspielerische Darstellung ihrer jeweiligen Rollen. Tevyes Gespräche mit Gott sind eine große Freude und bieten Anlasß zu Heiterkeit, selbst wenn man sie schon auswendig kennt. Eine der besten Szenen war weiterhin Goldes Gespräch mit Jente; komisch zwar, aber es gelingt beiden, diese Szene nicht zu übertreiben und ernst zu bleiben, wo es angebracht ist. Auch sängerisch bringen Tevye und Golde Glanzleistungen auf die Bühne. Erwähnt sei hier Tevyes "Wenn ich einmal reich wär'", daß sämtliche meiner hohen Erwartungen erfüllen kann.

Eine Freude war auch das Orchester unter Batholomew BERZONSKY. Tatsächlich gelingt es Klarinettisten und Geigern, ihrem Spiel ein wenig den Klang von Klezmer-Musik zu verleihen. Nur warum sich Berzonsky soviel Freiheit mit der Partitur erlaubt hat, kann ich nicht verstehen. Und warum streicht man bitte das letzte Stück? Ein Musical kann doch nicht auf Sprechtexte enden.

Alles in allem war die Aufführung nicht schlecht, aber ich bin davon überzeugt, daß es besser gegangen wäre. Begeisterter Applaus des Premierenpublikums an Sänger, Schauspieler und Tänzer; völlig unverdienter Applaus an Regisseur, Choreograph und Kostümbildner. Andere Leute würden für soviel Abschreiben mächtig Ärger bekommen. NG