"CARMEN" - 16. Dezember 2010

Der Abend begann eigentlich mit einer so angenehmen Überraschung: Scott MacALLISTER, dessen Namen man doch schon einige Male in Besetzungslisten wesentlich renommierterer Opernhäuser gelesen hat, gibt sich die Ehre, in unserem kleinen Theater den Don José zu spielen. Auf die Freude folgte bald Ernüchterung: Wenn das, was er am Donnerstag in Darmstadt abgeliefert hat, jetzt seine normale Leistung ist, dann dürfte man ihn demnächst wesentlich häufiger in kleinen Provinztheatern sehen!

MacAllister wirkte durchgängig, als sei ihm die Rolle zu anstrengend. Sobald die Lautstärke das Mezzoforte erreichte, kamen die Töne gequetscht, fast geschrieen. Stellenweise sang er mit einem Vibrato, das ausreichen dürfte, Gebäude zum Einstürzen zu bringen. Einsätze waren falsch und zum Teil eher gebrüllt oder gar gequietscht als gesungen. Auch habe ich noch keinen Sänger erlebt, der so viele Textfehler macht, mit der Folge, daß sich ganze Passagen nicht mehr reimten. Bei seinem "Ich werde in das Gras von meinem Gegner beißen" hätte ich fast losgelacht. Dabei will ich nicht mal alles kritisieren. Die leisen und lyrischen Passagen waren stellenweise sehr schön. Bei Josés Lied "Dragon d'Alcala" habe ich für einen Moment überlegt, ob sie den Sänger ausgetauscht haben, so wohlklingend war der Gesang auf einmal.

Leider ist Don José nicht der einzige Ausfall auf der Bühne. Georg ARTHUS als Escamillo macht ihm deutliche Konkurrenz. Ich weiß auch, warum er ein so erfolgreicher Torero werden konnte - er singt den Stier an und dann schläft dieser ein! Sein Spiel erinnert an einen Büroangestellten, der versucht den coolen Rocker zu mimen; sein Gesang ist größtenteils so unauffällig und langweilig, daß mir nicht mal mehr ein bissiger Kommentar einfällt. Außerdem - ich habe das Gefühl, diesen Satz schon so oft geschrieben zu haben - schien ihm die Tiefe zu fehlen, die seine Rolle nun mal erfordert.

Von den drei Hauptfiguren, die sich für Carmen interessieren, hätte diese sich meiner Meinung nach am besten für Zuniga entschieden. Wahrscheinlich war das auch dem Regisseur klar, denn um die Sympathien für die Rolle gar nicht erst aufkommen zu lassen, wurde Zuniga so unsympathisch wie möglich dargestellt, dessen Interesse an der Festnahme Carmens sicherlich nicht das Aufrechterhalten von Recht und Ordnung war. Thomas MEHNERT war nämlich der Einzige der Drei, der eine gesanglich und schauspielerisch gute Leistung auf die Bühne brachte. Abgesehen von dem überzeugenden Schauspiel - so zündete er sich beispielsweise während des ersten Akts eine Zigarette an und amüsierte sich rauchend über Josés ungeschicktes Verhalten gegenüber Carmen - sang er im zweiten Akt mit seinen wenigen Zeilen ohne Schwierigkeiten Don José, Dancairo und Remendado nicht nur an die Wand, sondern glatt durch sie hindurch. Wenn ich außer seinem undeutlichen Französisch etwas an ihm zu kritisieren habe, dann die Tatsache, daß er wohl vor dem Schlussapplaus nach Hause gegangen ist und mir damit die Möglichkeit nahm, ihn gebührend zu beklatschen.

Aber die Sprachkenntnisse der Sänger will ich außer Acht lassen. Es sang nicht einer fehlerfrei Französisch, und stellenweise war der Gesang ein einziger Lautbrei. Am besten verständlich war wohl Dancairo, der dafür allerdings einen fast schon schmerzhaften deutschen Akzent hat.

Von den tatsächlichen Hauptfiguren, war Erica BROOKHYSER als Carmen die Einzige, die überhaupt etwas Anständiges zustande gebracht hat. Schauspielerisch war sie nicht großartig; die Zigeunerin nahm man ihr nicht unbedingt ab, aber wenigstens dafür konnte sie wenigstens singen.

Carmens Freundinnen waren so gespalten wie die gesamte Besetzung des Abends. Carolin NEUKAMMs Mercédès war völlig unauffällig und stellenweise unhörbar, dagegen war Aki HASHIMOTO als Frasquita eine echte Freude. Ihr Gesang war kräftig, und sie wirkte im Gegensatz zu Mercédès nicht so, als ob sie das Ganze hier nicht anginge. Tatsächlich würde ich Aki Hashimoto als die beste Schauspielerin der drei Zigeunerinnen bezeichnen.

Eine weitere freudige Überraschung war Sven EHRKE als Dancaïro. Auch hier fiel vor allem auf, daß er sich stimmlich gegen den Chor durchzusetzen vermochte. Meine Kritik an ihm ist nicht einmal seine Schuld; ich bin es nur gewöhnt, daß Dancaïro mit einem Bariton besetzt wird und so wirkte Ehrkes Stimme immer zu hoch. Lasse PENTTINENs Remendado war wesentlich unauffälliger, ohne in irgendeiner Art schlecht zu sein.

Bleibt noch Susanne SERFLING als Micaëla. Hier wurden leider meine früheren recht guten Eindrücke eher enttäuscht. Sie schien stellenweise mit den höheren Tönen zu kämpfen, und warum war es möglich, sie in "Katja Kabanova" auf junge Frau zu schminken, während Micaëla aussah wie vierzig?

CHOR (Einstudierung: André WEISS) und ORCHESTER (musikalische Leitung: Vladislav KARKLIN) lieferten sehr wechselnde Leistung ab, die ich als gedämpfte Schwingung bezeichnen würde.

Das Libretto wurde mit der Axt oder gar der Kettensäge bearbeitet. Drei Stücke ohne allzu deutlichen Handlungsbezug wurden komplett gestrichen, viele andere Chorparts oder rezitativ-ähnliche Stücke zumindest gekürzt. Nicht einem Sprechtext wurde der weitere Aufenthalt erlaubt. Kein Wunder, daß es gelingt, die Aufführungsdauer auf zwei Stunden und neunzehn Minuten zu kürzen. Durch die fehlende Einführung in "Sur la place", mußte zu allem Überfluß auch noch die Ouvertüre inszeniert werden - und zwar so, daß es möglichst laut auf der Bühne wird.

Die Inszenierung (Mei Hong LIN) reicht mal wieder von seltsam bis unverständlich. So wird aus der Corrida die Tomatina - die Tomatenschlacht - die meines Wissens nach eine eher neue Veranstaltung ist, sie außerdem nur in einem Dorf Spaniens gefeiert wird. Wofür man da wohl einen Torero braucht? Wahrscheinlich gibt es dort besonders wehrhafte Tomaten… Weiterhin nimmt der veränderte Schauplatz jeglichen Sinn aus den Texten des -stark gekürzten - "Voici la quadrille".

Getanzt wird etwas, das zwar einige Elemente des Flamenco enthält, aber nicht eindeutig irgendeiner Tanzrichtung zuzuordnen ist. Albern wird es dadurch, das auch der männliche Teil des Tanzensembles in den typischen Röcken auftritt… Und das, ohne vorher die Stiefel ausgezogen zu haben. Weiterhin scheint die Choreographin (auch Mei Hong Lin) der Meinung zu sein, daß Spanierinnen nicht in der Lage sind, auch nur einen einzigen Schritt zu machen, ohne mit ihren Röcken zu wackeln. Außerdem merkt man deutlich, daß eine Choreographin das Stück inszeniert hat, da kaum eine Szene ohne Tanz abläuft.

Weiterhin gibt es einige weitere seltsame Regieentscheidungen: So ist beispielsweise der Chor während Carmens Lied für José im zweiten Akt anwesend, was ich als sehr unpassend empfinde. Die Schmuggler schleusen in Wahrheit Menschen, die erste Chorszene spielt in einer Art öffentlichem Dampfbad, und José zieht Carmen aus, bevor er sie umbringt. Na ja…

Der Kostümier (Dirk HOFACKER) war wohl der Meinung, daß Spanier grundsätzlich nur rot, schwarz und ein bißchen weiß tragen, denn das sind mit Ausnahme der Uniformen die einzigen Farben, die wir auf der Bühne sehen.

Alles in allem, eine Enttäuschung, welche die durchaus vorhandenen Lichtblicke leider nicht mehr herausreißen können. NG