"LA BOHÈME" - 8. November 2006

Die gute Nachricht zuerst: Hamburgs neue "Bohème" ist um Klassen besser als die vorherige Tambosi-Inszenierung, die zu Recht nach nur 28 Vorstellungen den Bühnentod starb. Die schlechte Nachricht ist, daß die neue Produktion von Guy JOOSTEN nicht durchgehend gelungen ist, sondern zwar einige gute Einfälle vorhanden sind, und der zweite Akt wirklich Spaß macht, aber diese Niveau leider nicht immer erreicht wird.

Die Personenregie ist durchaus lebendig, es gibt hübsche Ideen. So holt Schaunard beispielsweise Madame Benoît herüber, die dann die Abenteuer ihres Mannes mit anhören muß, Mimì plant offenbar schon länger, sich Rodolfo zu angeln, im zweiten Akt findet ein letztes Einkaufen vor dem Fest mit damit verbundenem Chaos statt, das "Momus" ist eine leicht dekadente Bar, im dritten Akt arbeitet Musetta in einem Bordell (was solange stimmig umgesetzt ist, bis man sich fragt, warum Marcello sich dann so aufregt, wenn sie einem anderen Mann zulächelt), und die beiden Duette von Mimì und Rodolfo an Ende des ersten und dritten Aktes spielen außerhalb des Bühnenbildes quasi vor dem Vorhang, als würden sie die Gefühle aus ihrem Elend herausheben. Andererseits hat man das Gefühl, als habe der Regisseur nicht wirklich etwas mit der Tragik des Geschehens anfangen kann, speziell Rodolfo und Marcello wirken regiemäßig ein wenig alleingelassen.

Als Problem stellt sich das Bühnenbild (Johannes LEIACKER) im ersten und vierten Akt dar. Da werden Einblicke in insgesamt neun Wohnungen eines Mietblockes gewährt. In der Mitte wohnen Rodolfo und Marcello, darüber Mimì, rechts neben den Künstlern Benoît und Gemahlin. Drei Zimmer zeigen neben Weihnachtsdekoration im ersten Akt keinerlei Bewegung, in einem sieht jemand fern, in einem anderen kommt eine Frau von den Weihnachtseinkäufen nach Hause, im Obergeschoß ist jemand bereits vor längerem verstorben und liegt tot in der Wohnung. Im vierten Akt ist das Haus leer, dem Abriß nahe. Nur noch das Zimmer von Rodolfo und Marcello wird bewohnt. Das kann man so machen, nur schränkt es einfach die Spielfläche zu sehr ein. Der Platz ist derartig beengt, daß sich kaum Handlung entwickeln kann. Zudem sieht man aus den oberen Rängen teilweise die Sänger nur von den Schultern abwärts. Nur sechs Wohnungen wären hier die bessere Lösung gewesen.

Im zweiten und dritten Akt sind die Bühnenbilder, erst eine Szenebar, dann ein Vorstadtbordell in einer Wellblechlagerhalle, passend zum Regiekonzept. Die Kostüme von Jorge JARA passen ebenfalls generell zum Konzept, allerdings muß man schon fragen, warum der arme Rodolfo den ganzen Abend mit Bomberjacke, leichten Baggypants und einem verkehrt herum aufgesetzten Basecap herumlaufen muß. Dieses Outfit würde auch den attraktivsten Mann der Welt verunstalten.

Als Mimì ist Alexia VOULGARIDOU eine hochklassige Besetzung. Die Stimme, fast schon zu dramatisch für die kleine Näherin, kann große, weite Bögen singen, hat eine warme Mittellage und eine aufblühende Höhe. Zudem gewann die Figur dadurch, daß hier kein kleines verschüchtertes Mädchen auf der Bühne steht, sondern eine junge Frau, die durchaus weiß, wie sie ihren Rodolfo bekommen kann. Allerdings bringt es das Gleichgewicht des Paares durcheinander, wenn Mimì eine große Stimme hat, Rodolfo jedoch zumeist im Orchester untergeht. John MATZs Stimme ist für diese Partie in einem Haus von dieser Größe einfach zu klein. Zeitweilig, wenn man ihn hört, bemerkt man eine schöne, wenn auch nicht außergewöhnlich timbrierte Tenorstimme. Die Höhen werden allerdings forciert, auch wenn dem Sänger an diesem Abend kein Malheur am Ende von "Che gelida manina" passierte, wie dies gemäß Zeitungsberichten in der Premiere der Fall gewesen ist.

Irena BESPALOVAITE als Musetta bercircte den männlichen Teil des Publikums mit einem gekonnten Striptease auf dem Bartresen, den sie sich figurmäßig auch leisten konnte. Dies hätte bei der stimmlichen Leistung allerdings nicht not getan, denn Aufmerksamkeit konnte sie auch durch ihren in jeder Lage gut geführte Sopran und ein wunderbar zickiges Spiel erringen. Im Finale konnte sie berühren. George PETEAN (Marcello) nennt einen urgesunden Bariton sein eigen, mit dem er die Partie ohne jedes Problem durchmißt. Daß mich dieser Sänger bisher in keiner seiner Rollen jemals gepackt hat, ist wahrscheinlich eher mein als sein Problem.

Der einzige Moment des Abends, an welchem sich in meiner Kehle ein Kloß bildete, war Collines Mantelarie. Alexander TSYMBALYUK, dessen mächtiger Baß eigentlich nach größeren Rollen verlangt, schafft es, die Emotionen des Verlustes zu wecken, die dem Rest des Abends fehlte. Daß er ansonsten ein quicklebendiger Darsteller ist, der, gleichgültig, was er singt oder spielt, immer "da" ist, kommt noch hinzu. Moritz GOGG, als Schaunard mit Alkoholproblem und einer Maske irgendwo zwischen Campino von den "Toten Hosen" und Altrocker gezeichnet, machte gesanglich und darstellerisch nichts verkehrt, blieb jedoch auch nicht bleibend in Erinnerung.

Im zweiten Akt schaffte es Tim MIRFIN als ungewohnt junger Alcindoro, die Blicke auf sich zu ziehen. Abgesehen davon, daß man diese Rolle selten von einer gesunden, jugendlichen Baßstimme zu hören bekommt, war er in seiner Darstellung (hier von Musetta tatsächlich wie ein Hündchen behandelt) einfach zum lauten Lachen reizend. Auch Frieder STRICKER als zauseliger Benoît machte seine Sache gut. Wenn von ihm keine großen stimmlichen Anstrengungen erwartet werden, kann er sich voll auf das Spiel konzentrieren, und darin ist er wirklich gut. Ladislav ELGR ließ als Parpignol eine kräftige, nicht unrechte Stimme hören (zu sehen war er von meinem Platz nicht, s.o.).

Das Dirigat von Jean-Yves OSSONCE tat allerdings dem Stück nicht wirklich gut. Da wechselten sich Phasen von sehr getragenen Tempi mit solchen ab, die hauptsächlich analytisch wirkten. Wirkliche Emotionen gingen von diesem Dirigat nicht aus. Problematisch war zusätzlich noch, daß die PHILHARMONIKER HAMBURG sehr laut waren, was speziell im Falle des Tenors nicht hilfreich war. Ansonsten war jedoch die Orchesterleistung makellos.

Der CHOR (Tilman MICHAEL) und die HAMBURGER ALSTERSPATZEN (Jürgen LUHN) machten ihre Sache vorzüglich, insbesondere im zweiten Akt, wo tatsächlich die Hektik von Last-Minute-Weihnachtseinkäufen nicht nur darstellerisch, sondern auch stimmlich spürbar wurde. MK