AM RANDE DES WAHNSINNS

"Lucia di Lammermoor" war die erste Opernpremiere der Hamburgischen Staatsoper im neuen Jahr. Die Produktion ist, wenn nicht von der inszenatorischen Seite, doch zumindest in einigen Teilen musikalisch recht interessant. Auch hier war der Abend mit Ausnahme von Saimir Pirgur komplett aus dem Staatsopernensemble bzw. dem Opernstudio besetzt. Leider ging die Rechnung hier nicht so gut auf wie zuvor im "Giovanni".

Ha Young LEE fehlte es für eine gute Lucia an Leidenschaft und Persönlichkeit. Von der Maske her noch unterstützt, wirkte ihr Gesicht oberhalb des Mundes die gesamte Zeit komplett bewegungslos. Ihre Gesten machten einen stereotypen und strikt einstudierten Eindruck. Als Lucia nach der Wahnsinnsarie vor dem Brautbett zusammensank, dachte ich an Hoffmanns Olympia, bei der man vergessen hatte, sie aufzuziehen.

An diesem Abend kam hinzu, daß die stimmliche Interpretation der Rolle auch technisch nicht zufriedenstellend ausfiel. Koloraturen klangen schrill und abgehackt, so als wären sie Arbeit, die bewältigt werden muß, und als setzte die Sängerin immer wieder neu an. Mir fehlte es zudem auch musikalisch schlicht an Seele.

Lucias Bruder war von der Regie zum Phlegma verdammt worden. George PETEAN wirkte auf mich bisher nie als ein Ausbund an Temperament, doch als Enrico scheint er einzig mit desillusioniertem Blick herumzustehen bzw. -zusitzen. Mit etwas mehr Verve in der Stimme hätte er durchaus die Chance zu einer musikalisch interessanten Interpretation der Partie. So allerdings fiel er mir nur auf, wenn er sich von einem Punkt zum anderen Punkt bewegte. Arie und vor allem Enricos Cabaletta waren dementsprechend komplett verschenkt. Schade.

Daß es trotz der Regie auch anders geht, bewies Saimir PIRGU als Edgardo. Zwar schien er ebenfalls zum Herumstehen und - immerhin - Armheben verdammt worden zu sein, doch ihm gelang es, seine Figur innerhalb des enggesteckten Rahmens stückkonform darzustellen. Hier war er also der stürmische, wie verliebte Held Donizettis (und wohl auch Scotts), der später rasend vor Eifersucht und Rache den letzten Anstoß zum dramatisch-blutigem Ende gibt. Die Leidenschaft im Spiel spiegelte sich auch in der gesanglichen Seite wider.

Pirgus Stimme gehört wohl zu den schönsten und auch bestgeführten seiner Tenorgeneration. Es ist nicht schwer, sich schlicht in deren Klang zu verlieren.

Heftig beklatscht wurde der Raimondo von Alexander TSYMBALYUK. Das Hamburger Publikum ist ganz vernarrt in diesen Baß. Seine tadellose Leistung bewies aber auch an diesem Abend, wie verdient diese Gunst ist. Die geöffneten Striche wie Raimondos Arie und die kurze, aber heftige Auseinandersetzung zwischen Raimondo und Normanno nach der Wahnsinnsarie gaben gerade ihm die (gut genutzte) Möglichkeit, seine erneuten gesanglichen Fortschritte darzubieten, und brachten dank Tsymbalyuks Darstellung die Figur selbst vom Brummeln in den Ensembles zu einem der Dreh- und Angelpunkte des Stücks (und wenn man genau aufpaßte, konnte man ihn sogar tanzen sehen).

Leider war Renate SPINGLER diese Chance nicht gegeben. Wird Alisa schon generell eher stiefmütterlich behandelt, so blieb ihr hier kaum Luft, aus sich herauszukommen. Zu dogmatisch schienen die Regievorgaben, um aus der trutschig daherkommenden, sich anfangs auf dem Boden wälzenden Erzieherin Lucias überhaupt einen Charakter zu machen. Es blieb die stimmliche Interpretation, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, was dem Mezzosopran wesentlich besser gelang als manch anderem auf der Bühne.

Ziad NEHME fiel als Normanno nicht nur wegen seiner eindrucksvollen roten Schuhe auf, sondern überzeugte aufgrund seiner charaktervollen, aber trotzdem schönen Stimme (sowie seiner Tanzkünste) und brachte einen treuen, aber durchweg intriganten Gefolgsmann Enricos auf die Bühne. Über eine ausgesprochen schöne und dazu perfekt geführte Stimme verfügt auch Dovlet NURGELDIYEV, der den kurzen Momenten Arturos eine erstklassige, makellose Wiedergabe schenkte.

Ungewohnt holperig wirkte die Leitung des Abends durch Simone YOUNG. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie mit Belcanto nicht zurechtkommt. Der Grund für die unkonzentriert wirkende Leistung aus dem Graben muß also woanders liegen. Auch die PHILHARMONIKER HAMBURG waren nicht 100%ig fit. Die Streicher hatten keinen besonders guten Abend, und einige Male schien die Kommunikation zur Bühne arg zu leiden.

Die Oper in der Version mit Glasharmonika zu spielen, scheint derzeit in zu sein. Der Grund dafür bleibt mir nach dem erstmaligen Hören allerdings verborgen, zumal das Instrument (ich weiß, jeder hört anders) für meine Ohren eher unangenehm klingt.

Der CHOR (Leitung: Florian CSIZMADIA) bot dagegen nach einem, sagen wir einmal schwierigen Start der Herren eine bodenständig gute Leistung. Das "Giubilo" klang sauber wie einig und auch rund um die Wahnsinnsszene gab es soliden Gesang von der Chorseite.

Solide ist nicht das Wort, mit dem ich die Inszenierung von Sandra LEUPOLD beschreiben möchte. Der schöne Begriff "Schmarrn" trifft es m. E. am besten. Bedauerlicherweise ist es mittlerweile üblich, die Interpretation einer Oper mittels Einzelideen, die für das Publikum nicht zusammenzupassen scheinen, auf die Bühne zu bringen. Allerdings muß man sich dann auch Fragen nach dem "Wozu?" gefallen lassen.

Wozu reiten Lucia und Edgardo während des Liebesduetts auf zwei Palmen einer Oase (ähm, Schottland, nicht Perth, Australien)? Wozu sieht Enrico aus wie der letzte schlunzige Bauer (Kostüme: Esther BIALAS) und stapelt freudig die Hochzeitsgeschenke? Wozu kommt Edgardo im Brautbett zwecks Unterbrechung der Hochzeitfeierlichkeiten angefahren und versucht, sich mit Enrico mittels zweier Kissen zu duellieren? Wozu steht das Brautbett nach der Pause permanent irgendwo auf der Bühne?

Man erhält den Eindruck, daß das Stück mit seiner Musik und Handlung hier nicht in der Form ernstgenommen wird, die es eigentlich verdient hat. Wenn man in dieser Form die Intension hinter den Melodien dem Publikum nahebringen wollte, wie es zumindest im Programmheft zu lesen war, so ist dies gründlich mißlungen. "Lucia" in einem Fundus voll mit Bildern und anderen ausrangierten Gegenständen (Bühnenbild: Stefan HEINRICHS) könnte vielleicht mit viel Liebe zum Stück und einem roten Faden beim Konzept funktionieren, aber eben nicht so. AHS

P.S. Dieser Abend bot mir die Gelegenheit, mich wieder einmal an die perfekte Interpretation der Lucia zu erinnern. Es ist mittlerweile elf Jahre her, aber irgendwie höre ich Renée Sesselys Stimme immer noch…