"ANDREA CHENIER" - 14. Februar 2010

Geschlagene 56 Jahre ist die letzte Premiere von Giordanos "Andrea Chenier" an der Hamburgischen Staatsoper her, sie fand noch im Provisorium der Nachkriegszeit statt. Doch anstatt die Gelegenheit zu nutzen, diesem ausgesprochen bühnenwirksamen Stück eine Neuinszenierung angedeihen zu lassen, reichte es nur zu vier konzertanten Aufführungen. Szenisch beglückt man uns lieber wieder mit "Lucia" und "Aida". Der Hang von Simone Young zur szenischen Wiederholung sattsam bekannter Werke ist leider unübersehbar...

Rein musikalisch konnte sich die Sache allerdings hören lassen. Das Stück steht und fällt mit dem Tenor, und hier hatte man mit Johan BOTHA einen der wenigen aufgeboten, die die schwierige Partie im Moment wirklich singen können, wobei die Betonung auf SINGEN liegt, weil er ungeheuer differenziert phrasiert und immer den Poeten in den Vordergrund stellt, eben kein veristisch röhrender Revoluzzer. Wer kann sonst schon auf dem in der Tessitura unangenehmen "il firnamento" am Ende des ersten Teils des Improvviso ein Decrescendo singen, das hier auch Sinn macht, weil dieser Teil eine Liebeserklärung ans Vaterland ist? Die soziale Anklage des zweiten Teils bekommt ihre Wirkung dann allein über die dynamische Steigerung.

Dieses Aufbauen der Phrasen aus dem Piano heraus bis zu absolut sicheren, machtvollen Spitzentönen behält er den ganzen Abend über bei, hochmusikalisch und mit einer Technik, bei der ich immer das Gefühl habe, daß er auch im Forte nur spielt. Ansonsten ist "Spiel" von Haus aus sicher nicht seine starke Seite (wobei ich das auch schon anders erlebt habe, wenn er gefordert wird). Aber die leere, allenfalls mit dem einen oder anderen Stuhl bestückte Bühne ist natürlich nicht unbedingt animierend. Wobei es im Grundsatz erfreulich ist, daß man nach dem Desaster mit der vom auf dem Podium befindlichen Orchester hinterrücks erschlagenen "Daphne" dazu übergegangen ist, die Musiker auch bei konzertanten Aufführungen im Graben zu belassen, und den ja häufig genug ihre Rollen ohnehin "drauf" habenden Solisten auch die Notenpulte genommen hat, so daß sie jetzt freier agieren könn(t)en.

Vor allem Franz GRUNDHEBER nutzt diese Möglichkeit zwei Akte lang konsequent, im dritten freilich bleibt er meist hinter dem - szenisch sinnvollen - Stehpult, auf dem für diese Szene die Noten liegen. Stimmlich läßt der zweiundsiebzigjährige Sänger, der hier sein Rollendebüt (!) als Gerard gab, kaum einen Wunsch offen, präzise Diktion und scharf charakterisierende Tongebung (die zu Beginn des ersten Aktes auch vor - dem Inhalt angemessener - ironischer Übertreibung nicht zurückschreckt) entwarfen ein diffiziles Bild eines in sich zerrissenen Menschen. Und was er an glanzvoller Höhe zu bieten hat, dürfte manch Jahrzehnte jüngere Konkurrenz erschrecken.

Norma FANTINI erinnert mich mit ihrer Frisur irgendwie an die frühe Anita Cerquetti, und auch das Organ geht in die Richtung; ein kraftvoller, in den Forte-Höhen mit Schärfen versehener, voluminöser Sopran der alten italienischen Schule, wie er heutzutage leider selten geworden ist. Die warme Mittellage kommt vor allem in "La mamma morta" vorteilhaft zur Geltung, aber auch sonst kann sie mithalten, wenn auch die Phrasierung insgesamt einfarbiger bleibt als bei den Herren.

Das Hamburger Ensemble war in der Vielzahl kleiner Partien ebenfalls meist sehr erfolgreich; sowohl Jürgen SACHERS süffisanter Incroyable als auch der ausgesprochen schön timbrierte Dong-Hwan LEE als Fleville oder der kraftvoll-bassige Schmidt von Kyung-Il Ko waren ein Vergnügen. Moritz GOGG überzeugte als Mathieu, und auch Brian DAVIS war ein rundum zufrieden stellender Roucher, wobei sich mir bei einer derartigen Partie allerdings die Frage stellt, wozu sie eines Gastes bedarf. Einzig Ziad NEHME kam mit dem ihm offenbar arg tief liegenden Abate nicht wirklich zurecht.

Bei den Damen brillierte vor allem Ann-Beth SOLVANG als klangreiche Bersi, gegen die die Contessa von Cristina DAMIAN ein wenig verblaßte, während Deborah HUMBLE zwar problemlos alle Töne für die alte Madelon hatte, diese eigentlich so anrührende Szene aber weder über die Ausstrahlung noch die textliche Durchdringung zur Wirkung bringen konnte.

Ganz ausgezeichnet schlug sich der von Florian CSIZMADIA einstudierte CHOR und auch das ORCHESTER hatte einen prima Tag erwischt.

Über die Fähigkeiten von Simone YOUNG im italienischen Fach ist viel diskutiert worden. Den "Freunden der italienischen Oper" ist sie häufig schlicht zu laut, zu wenig "italienisch" (was immer auch darunter verstanden wird, genauere Definitionen erhält man meist nicht…). Natürlich hält sie sich nicht als reine Sängerbegleiterin dezent im Hintergrund, sondern sieht das Orchester auch hier als gleichberechtigten Partner des Bühnengeschehens. Und Giordanos komplexe Stimmführung mit ihrer reichen - und reichhaltigen - Instrumentation gibt das auch her. Nur in einigen Passagen im Konversationston hätte sie den Graben auf ein intimeres Klangbild herunterschrauben müssen. Viel problematischer ist für mich häufig ihre Tempowahl, die dazu neigt, schnelle Passagen noch schneller zu nehmen und langsamere zusätzlich zu strecken. Doch diesmal hat sie zumindest mich überzeugt, ein in sich stimmiges Dirigat mit dramatischer Akzentuierung und reichen Farbvaleurs. HK