"CHOWANTSCHINA" - 3. April 2010

Es gibt wenige Wiederaufnahmen, denen ich derart entgegengefiebert habe wie dieser "Chowantschina"-Produktion. Mehr als ein Jahrzehnt war diese mustergültige Inszenierung von Harry KUPFER in den Depots verschwunden; so daß die Hoffnung, sie jemals wiederzusehen, ein kaum mehr glimmendes Fünkchen war. Doch jetzt ist sie in aller Pracht wieder da. Kupfer gelingt es in einem Stück, in welchem eigentlich alle Personen höchst unsympathisch sind, daß man trotzdem mitfiebert, daß jede einzelne Figur ausgearbeitet ist, daß immer irgendwo nachvollziehbare Handlungen passieren, ohne daß dies in blinden Aktionismus ausartet. Die Atmosphäre der immerwährenden Bedrohung wird vom Vorspiel an deutlich. In dieser Stadt kann sich niemand sicher fühlen, daß diese Geschichte nicht gut ausgehen kann, ist nicht verwunderlich.

Die Kostüme von Reinhard HEINRICH sind sehr angemessen, vielleicht mit Ausnahme des von zweifelhaftem Geschmack zeugenden Kostüms für Andrej (aber das kann auch als Charakterisierung gemeint sein), und noch immer ist das Schlußbild, in welchem Bühnenbildner Hans SCHAVERNOCH die Selbstverbrennung der Altgläubigen stattfinden läßt, einfach nur atemberaubend. Superlative reichen kaum aus, um die Wirkung zu beschreiben.

Elena ZAREMBA wird für mich auf immer mit der Rolle der Marfa verbunden sein. Ein so tiefes Durchleben einer Partie, irgendwo zwischen kämpferischer Frau und angsteinflößender Fanatikerin, ist einfach nur als grandios zu bezeichnen. Der Moment, in dem sie erstmalig erwähnt, sich zusammen mit Andrej den Feuertod zu wünschen, läßt Schauer über den Rücken laufen. An ihrer Seite steht Tigran MARTIROSSIAN als Dossifej ihr in nichts nach. Trotz seiner sichtbaren Jugend ist er ein Führer von großer Autorität, dessen fast schon hypnotischer Baßstimme schwer zu widerstehen ist, selbst wenn sie zum Massenselbstmord auffordert. Ein sanfter, aber nichtsdestotrotz (lebens-)gefährlicher Demagoge.

Matti SALMINEN als Chowansky ist bereits seit der Premiere dabei. Sicherlich gibt es stimmlich und von der Beweglichkeit her inzwischen einige Abstriche zu machen, aber was für einen Charakter stellt der finnische Baß hier auf die Bühne. Es bedarf nur einiger Töne, um deutlich zu machen, daß hier ein Mann steht, der sich nimmt, was er will, ohne jede Rücksichtnahme. Lauri VASAR (Schlaklowitij) hat es mehr mit den leisen, gefährlichen Gesten, er zieht die Fäden hinter den Kulissen. Seine Arie gelingt ausdrucksvoll, fast möchte man ihm abnehmen, daß er all das für Rußland tut.

Die beiden großen Tenorrollen fallen hiergegen doch stark ab. Viktor LUTSIUK als Andrej (eingesprungen für Michael König) hat neben der Last, den wahrscheinlich unsympathischsten Charakter auf die Bühne zu stellen, einige Probleme mit den häufig grell klingenden Spitzentönen. Peter GALLIARD als Golitzyn kann ich einfach nicht abnehmen, daß er zusammen mit der Regentin Sofia als cleverer Politiker die Geschicke des Landes geführt hat. Irgendwie wirkt er sofort stimmlich als auch darstellerisch beiläufig, manchmal klingt die Stimme dabei überanstrengt.

Hingegen sind die kleineren Rollen durch die Bank großartig besetzt. Man weiß gar nicht, wen man hier am höchsten preisen soll: die klarstimmige, durchaus kämpferische Emma von Katerina TRETYAKOVA, den agilen, sicher singenden Schreiber von Ziad NEHME, der außergewöhnlich schönstimmige Kusjka von Dovlet NURGELDIYEV, den autoritären Baß von Wilhelm SCHWINGHAMMER als Strechnjew/1. Streleze oder den 2. Strelezen des Hee-Saup YOON?

Die PHILHARMONIKER HAMBURG spielen engagiert, fehlerfrei und mit dem richtigen russischen Klang, während Simone YOUNG am Pult hier zahlreiche Kleinigkeiten zusätzlich hörbar macht. Manchmal führt dies dazu, daß Mussorgsky plötzlich Anklänge an Verdi zeigt, um dann gleich wieder zu der rauheren Klangsprache zurückzufinden.

Der CHOR (Leitung Christian GÜNTHER) leistet Großes, sowohl gesanglich als auch bei der Kupfer eigenen Stärke, Individuen aus der Masse sichtbar werden zu lassen.

Im Herbst 2010 gibt es die nächste Serie. Das sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. MK