"WOZZECK" - 6. März 2010 (Premiere)

Der Entschluß, nach Kiel zu fahren und sich die aktuelle Premiere anzuschauen, war ein sehr spontaner. Man sollte seinen Launen ruhig öfter nachgeben (gerade als Frau ist dies ja nichts Ungewöhnliches). Mir bescherte es diesmal einen packenden Opernabend, der musikalisch wie sehr szenisch gelungen war.

Dabei erwies sich gerade der Sänger der Titelpartie als Schwachpunkt. Musikalisch macht Jörg SABROWSKI nichts falsch, ist aber nicht gerade mit einer der aufregendsten Stimmen gesegnet. Aber in dem vorhandenen Material sollte mehr als das wenig motivierende Abspulen der Töne stecken, das hier geboten wurde.

Auch in der Porträtierung Wozzecks blieb er aus meiner Sicht den gesamten Abend eine Entwicklung schuldig. Alles geschah scheinbar aus einer gewissen trägen Gleichmut heraus. Auf die Eifersucht und insbesondere die Eskalation, die schlußendlich zum Mord an Marie führt, wartete man vergebens.

Seinen Kollegen gelang es hier bedeutend besser, ihren Figuren Persönlichkeit zu geben und Interesse an deren weiterem Schicksal zu wecken. Wie z.B. Fred HOFFMANN als Hauptmann, der ihn bereits in den ersten Momenten des Abends gnadenlos an die Wand spielte. Seine gesangliche Verkörperung jenes Galgenstricks bot ebenfalls ein interessantes Spektrum. Oder Yoonki BAEK, der nicht nur über eine schöne Stimme verfügt, sondern Andres auch jenseits der reinen Unterstützung Wozzecks Profil zu verleihen wußte.

Hans Georg AHRENS gab den Doktor zwar skurril, aber stets so, daß man an der Glaubwürdigkeit dieser Figur kaum Zweifel hatte. Durch die deutlich zur Schau gestellte Unverfrorenheit und Arroganz dieses Mediziners wurde es schlicht vorstellbar, daß ein solcher Arzt ob seiner Chuzpe unbehelligt sein Unwesen treiben konnte. Hinzu kam ein Lehrstück an exaktem Gesang, der mit richtigen Maß an Gefühl versehen, für weitere Gänsehautstimmung sorgte.

Die tragende Figur des Abends jedoch sah und hörte man in der Marie von Sonja MÜHLECK. Hier war sie nicht die überirdische Schönheit wie aus einer anderen Welt, die zumindest ich mir immer für diese Partie vorgestellt hatte, sondern eine sehr bodenständige Person, die unter dem Elend, in dem sie lebt, leidet und versucht, sich dem Quentchen Vergnügen, das sich ihr in Person des Tambourmajors bietet, ohne Reue hinzugeben.

Mit ihrer natürlich und warm tönenden Stimme gab Sonja Mühleck Marie scheinbar ohne Mühe eben diese Wahrhaftigkeit, klang nicht für einen einzigen Moment gekünstelt oder verstellt. Ob im Umgang mit Maries Kind, dem Tambourmajor oder Wozzeck stets fand sie die richtigen Farben, die entsprechenden Gesten, die passende Mimik.

Jan VACIK hatte am Tambourmajor trotz der Widerlichkeit dieses Charakters sichtlich seinen Spaß. Seine trefflich gestalteten gesanglichen Auftritte verstärkten den Wunsch, daß man den Tenor gern wieder einmal in einer musikalisch größeren Partie erleben möchte.

Kyung-Sik WOO war ein stimmgewaltiger Erster Handwerksbursche, der seine kurzen Momente zu nutzen wußte. Michael MÜLLER ließ mit seinem erstklassig gesungenen Narren aufhorchen. Merja MÄKELÄ gab eine springlebendige Margret. Norbert CONRADS (Zweiter Handwerksbursche), Thomas LOOSE (Soldat) und Jonathan SABROWSKI (Mariens Knabe) ergänzten auf gutem Niveau.

Das PHILHARMONISCHE ORCHESTER KIEL trug einen wesentlichen Teil zu diesem gelungenen Premierenabend bei. Alle Instrumentengruppen klangen so sauber disponiert wie klar, und konnten als Gesamtklangkörper sowohl in den atonalen Passagen als auch in den wenigen lyrischen Momenten fulminant überzeugen. Alban Bergs Musik scheint auch Johannes WILLIG besonders zu liegen. Mühelos hielt der Dirigent diesmal das Geschehen zusammen und schuf mit souveräner Hand den vollkommenen, musikalischen Rahmen für das Drama auf der Bühne.

Der CHOR DES THEATERS KIEL löste trotz teilweise beengtem Raums seine Aufgabe gut, und auch der KINDERCHOR hatte am Ende einen gut gesungenen Auftritt in sehr cooler Kostümierung à la schwarzer Block, was wie alle Gewänder des Abends sehr gut zur Umgebung paßte (Kostüme: Claudia SPIELMANN).

Der Kieler Intendant Daniel KARASEK bringt das Drama in einer Art Tunnel, der üblichen Darstellung der "Paris sewer" in aktuellen "Les Mis"-Produktionen gar nicht so unähnlich, auf die Bühne. Dabei gelingt es ihm und seinem Team, die verschiedenen Schauplätze durch einfache Mittel von der umgebenden Röhre sowie voneinander abzugrenzen. Die erste Szene wie die Untersuchung durch den Doktor spielen in einem Lichtviereck, während die restliche Bühne abgedunkelt ist. Marie lebt mit ihrem Kind in einem orangefarbenen Quader, der je nach Bedarf auf der Bühne hin- und hergefahren und gedreht werden kann. Der Tanz findet in einem engen Raum statt, der aus dem Bühnenboden hinaufgefahren wird, etc. (Bühnenbild: Norbert ZIERMANN).

Die so ermöglichte rasche Abfolge der Bilder gibt der Produktion einen beinahe filmischen Charakter, wobei sich intime und raumgreifende Szenen stückkonform mit viel Gefühl für die Musik abwechseln. Ganz großes Kino irgendwie, das für Bergs Oper einnimmt und dort erklärend ist, wo die Musik allein vielleicht verstörend wäre. Eine beeindruckende Arbeit.

Die schweigende Ratlosigkeit des Premierenpublikums nach Ende des Stücks schenkte dem Zuhörer einen Moment der Ruhe zum Wirkenlassen und In-sich-gehen (Himmlisch!). Der eher verhaltene Applaus, der dem folgte, läßt allerdings befürchten, daß dieser Produktion nicht der Erfolg beschieden sein wird, den sie verdient hätte. Das wäre wirklich schade. AHS