„CARMEN“ - 5. September 2003

Das Lübecker Theater startete die neue Spielzeit mit Bizets „Camen“. Eine clevere Wahl, wie der Premierenabend zeigte, denn das Stück allein füllt das Haus, und es genügt eine gutaussehende Sängerin in der Titelpartie, um das Publikum zum Jubeln zu bringen.

Natürlich soll mit einer solchen Aussage die guten Leistungen, die es an diesem Abend gab, nicht geschmälert werden. Doch es ist erstaunlich, wie wenig es braucht, um ein Premierenpublikum zufriedenzustellen.

Die Inszenierung von Patrice BIGEL langweilte leider schlichtweg. Sinnloses Herumstehen der Protagonisten war Programm, die Beziehungen zwischen den Personen der Handlung nicht vorhanden. Carmen und Don José hatten sich nichts zu sagen, und so fragte man sich am Ende des Abends, weshalb es zur tödlichen Eskalation kam. Es gab keine Geschichte von Liebe und Eifersucht, keine Konfrontation. Jegliche Erotik seitens Carmen fehlte. Von den interessanten Ansichten des Regisseurs, die man im Programmheft nachlesen konnte, blieb auf der Bühne leider nichts übrig. Der Chor bewegte sich entweder unkoordiniert oder viel zu militärisch. Weshalb sollten die Bewohner Sevillas in der ersten Szene vor den Soldaten auf und ab marschieren?

Das Bühnenbild lebte von großflächigen Mustern zwischen Lokalkolorit und siebziger Jahre-Stil. Einfallslos und scheinbar bunt zusammengewürfelt. Plakativ, aber ähnlich bar jeder Aussage wie die Inszenierung selbst. Man könnte vermutlich jedes Stück außer Puccinis „Butterfly” in diesen Kulissen spielen lassen. Jean-Charles CLAIR ist für diese Ausstattung verantwortlich. Bei den Kostümen bewies er ein besseres Händchen. Mit einer Ausnahme waren diese der jeweiligen Figur angemessen gestaltet. Diese Ausnahme allerdings zeigt ein gehöriges Maß an fehlender Sensibilität.

Wie man auf die Idee kommen kann, Escamillo in klassisches Torero-Outfit in den Farben violett und orange zu stecken, bleibt wohl das Geheimnis des Produktionsteams. Glücklicherweise war die Beleuchtung so gestaltet, daß man diese farbliche Entgleisung nicht ständig vor Augen hatte.

Die Entscheidung, die Dialoge in deutscher Sprache wiedergeben zu lassen, kam dem Publikum sicherlich entgegen, doch die Übersetzungen waren zum Teil unfreiwillig komisch. Etwas mehr Sorgfalt wäre hier angebracht gewesen, zumal der Großteil der Sänger eben keine Muttersprachler waren.

Eine schöne Reminiszenz an die Geschichte des Hauses war die Ansicht der Stierkampfarena im letzten Bild, die an die beleuchtete Holstentorhalle, eine Ausweichspielstätte während der Renovierung, erinnerte. Aber vermutlich war die Ähnlichkeit eher ein Zufall.

Patricia FERNANDEZ brachte eine persönlichkeitsarme Carmen auf die Bühne. Sie ist eine schöne Frau, mit einer ebenso gefälligen Stimme gesegnet, doch leider reicht das nicht, die gefährliche Verführerin glaubhaft zu machen. Es liegt nicht daran, daß sie den Part nicht zu singen vermag. Das gelang ihr zumeist recht ordentlich, wobei sie allerdings in den Ensembles z.T. nicht zu hören war, und das Schmugglerquintett doch eher zum Quartett geriet. Es war vielmehr ihr Verständnis von der Rolle, das viel zu klischeehaft geriet und aus der Gefahr für jeden Mann in ihrer Nähe eine Vorstadt-Diva machte.

Don José in der Interpretation von Mario DIAZ war ihr in der sicherlich keine Hilfe bei der Rollenentwicklung. Einer der Gründe des Scheiterns jeglicher Darstellung der Beziehung zwischen Carmen und José war wohl in der Unfähigkeit des Tenors, auf seine Partner einzugehen, begründet. Er verbrachte den Abend mit klassischem Rampenstehen, raumgreifenden Gesten und dem Bemühen, seine Stimme klingen zu lassen. Letzteres mißlang immer wieder. Die Stimme hat in den vergangenen Monaten noch mehr gelitten. Permanentes Forcieren machte den Klang nicht schöner und die Versuche diverser Piani, angebrachte und unangebrachte, berührten aufgrund des Unvermögens eher peinlich. Gesangstechnik? Die vermißte man den gesamten Abend hindurch.

So lag es in erster Linie auf den Schultern von Chantal MATHIAS aus dem Abend eine musikalische Geschichte zu machen. Es gelang ihr außerordentlich gut. Die Entwicklung der Sängerin ist erfreulich. Im Gegensatz zu früheren Auftritten brachte sie hier ein gelungenes Rollenporträt über die Rampe. Micaela war weit entfernt von dem üblichen Hascherl. Ihr glaubte man, daß sie sich auf den Weg ins Gebirge macht, um José auf den “rechten Weg” zurückzubringen. Hinzu kommt ein schön aufblühender Sopran mit dem richtigen Sitz und einer klaren Höhe.

Gerard QUINN litt primär unter dem bereits erwähnten Escamillo-Kostüm. Schade, denn eigentlich bewältigt er diese für Baritone oft so schwierige Rolle mit Anstand und besitzt auch das notwendige Temperament für den Torero aus Granada.

Mercedes mit Angela NICK zu besetzen, war wenig clever, bewies sie doch, wie man mit einem ausgereiften, rund klingenden Mezzosopran und einem ausgefeilten Spiel Carmen wie ein blasses Abziehbild aussehen lassen kann. An ihrer Seite stellte sich Stefanie KUNSCHKE als neues Ensemblemitglied dem Lübecker Publikum vor. Ein vielversprechendes Hausdebüt, bei dem man sich auf mehr als bloß Frasquita freut.

Die Herren des Ensembles bewiesen ein weiteres Mal, daß es eben keine kleinen Rollen gibt. Marco STELLA als Zuniga und Patrick BUSERT als Remendado zeigten bestens disponiert, während Benno SCHÖNING (Dancairo) im Verhältnis dazu ein wenig abfiel.

Schade war es um die musikalische Begleitung aus dem Graben. Gar zu forsch, fast militärisch ließ Roman BROGLI-SACHER das PHILHARMONISCHE ORCHESTER klingen. Hinzu kamen deutliche Schwächen bei den Blechbläsern, während die Streicher dem guten Ruf des Orchesters gerecht wurden. Schön gelungen war das Vorspiel zum 3. Akt mit einem exzellent gespielten Querflöten-Solo.

Wie häufig beim Zusammentreffen von CHOR und EXTRA-Chor (Einstudierung: Joseph FEIGL) auf der Bühne ließ die gesangliche Qualität zu wünschen übrig.

Und dann gab es noch Flamenco... ein Programmpunkt, auf den man getrost hätte verzichten können.

Anschauen sollte sich die Produktion trotz der Mankos, denn die kleinen Feinheiten im Ensemble sind es wert. Allerdings: Das geht am Lübecker Theater eigentlich viel besser. AHS