"DIE WÄLT DER ZWISCHENFÄLLE"- 6. März 2004

Das Theater Lübeck bringt in jedem Jahr eine Produktion eines skandinavischem Komponisten der Gegenwart auf die Bühne. Intendant Marc Adam begründete dieses jüngst in einem Radiointerview mit der Nähe der Stadt zur nördlichsten Region Europas (naja...). Dieses Jahr gab es eine Uraufführung des Isländers Halfidi Hallgrimsson (Jahrgang 1941). Der Komponist entschloß sich vor mehr als 20 Jahren, seine Stelle als erster Solocellist beim Scottish Chamber Orchestra aufzugeben, um sich der Tätigkeit des Komponierens voll und ganz zu widmen. Dieses war sein erstes Werk für Musiktheater. In ihrem (mit der Zeit immer langweiliger werdenden) Einführungsvortrag versprach Dramaturgin Daniela BRENDEL ein überwiegend tonales Werk. Das habe ich jedoch nicht herausgehört. In der Oper an sich gibt es zwei, drei Passagen, die mir ganz gut gefallen haben, der Rest hat mich aber eher gelangweilt, was aber auch damit zusammenhängt, daß ich dieser Art von Musik generell nichts abgewinnen kann.

Das Stück hört auf den seltsamen Titel „Die Wält der Zwischenfälle“. Der Umlaut rührt von dem Librettisten her, dem Russen Daniil Charms, der unter Stalin in Ungnade fiel und in einer Leningrader Gefängnispsychiatrie verhungerte. Er stellte alle gesellschaftlichen Konventionen in Frage und somit auch die Rechtschreibung. In dem Werk gibt es keine durchgängige Handlung, vielmehr ist es eine Szenefolge auf Texte von Charms, die alle eine Handlung in sich bergen. Diese sind jedoch dermaßen absurd, dass sogar Kafkas „Verwandlung“ in ihrem Inhalt noch plausibel wirkt. Ich würde sie vielleicht als kontextuellen Dadaismus bezeichnen. Die (aus meiner Sicht) viel besseren Texte waren kürzer und standen allesamt im Programmheft, dem auch die Texte beigefügt waren.

Die Produktion war als Koproduktion der Wiener NetZZeit (die sich für die Musik zeitgenössischer Komponisten stark macht) mit dem ENO-Studio der English National Opera geplant. Das Studio (das sich auch für moderne Musik einsetzte) wurde jedoch aus Geldmangel eingestellt, und die Uraufführung schien gescheitert bis Lübeck Interesse zeigte. NetZZeit-Gründer und –Leiter Michael SCHEIDL sorgte mit Nora SCHEIDL (Ausstattung) für die Inszenierung, die sich dem Werk eigentlich gut anpasste. Eine klassische Regie wirkt bei solchen Werken einfach lächerlich.

Die ersten Szenen spielen in einer Art Unterführung, aus der jedoch keiner der Beteiligten heraus kann. Die Protagonisten haben allesamt Körperdoubles, die von der anderen Seite wieder reinkommen, wenn sie auf der einen abgegangen sind (wäre aber schön gewesen, wenn diese halbwegs wie die „echten“ ausgesehen hätten...). Der Rest spielt in einem nicht weiter definierbaren Raum, wo eine Rampe zur rechten hinteren Seite hochgeht, vorne eine Parkbank steht und links eine Kiste auf Pfählen. Die Kostüme fügten sich gut in das Bühnenbild ein.

Höchst erfreulich erwies sich die musikalische Umsetzung der doch sehr komplexen Musik. Bei den Sängern gab es keinen einzigen, der durch eine besonders schlechte Leitung aufgefallen wäre. Selbst bei den Phrasen, wo jeder der Sänger ein einziges Wort zu singen hat, das dann in der Ergänzung mit den anderen einen Satz ergibt, blieben alle glänzend zusammen.

Da es, wie gesagt, keinen Handlungsstrang gibt, waren die Sänger auch nur mit den Stimmlagen bezeichnet. Eine wirklich tolle Leistung bot der eine Tenor/Erzähler (Charms???) Clemens C. LÖSCHMANN, der die sehr anspruchsvolle Partie ohne Abstriche meisterte und sogar noch einen kleinen Stunt zu bewältigen hatte.

Bei Mark HAMMAN (Der andere Tenor) störte ein wenig der nicht akzentfreie Vortrag, aber auch er absolvierte seinen Part ohne Fehl und Tadel. Während Tom SOL (Der eine Bariton) ein wenig abgesungen klang, brillierte Marco STELLA als der andere Bariton mit einer gloriosen Höhe. Christian TSCHELEBIEW (Der eine Bass) hatte neben seinen gesanglichen Aufgaben, die er ebenfalls sehr gut bewältigte, auch noch einen leicht anzüglichen Tanz zu vollführen, dem er auch gewachsen war. Andreas KRUPPA (Der andere Bass) fiel nicht sonderlich auf.

Die Damen waren mit der technisch hervorragenden Chantal MATHIAS (Der Sopran), bei der nur die etwas verwaschene Höhe ein wenig störte, und der herrlich volltönenden Veronika WALDNER (Der Mezzosopran) besetzt.

Ein großes Lob gilt dem Kapellmeister Frank Maximilian HUBE und dem höchst konzentrierten PHILHARMONISCHEN ORCHESTER DER HANSESTADT LÜBECK!!! Wie sie es schafften, die Klüfte des Werkes zu umschiffen, ist unglaublich! Selbst ein „großes“ Orchester hätte es kaum besser machen können. Niemals wurden die Sänger zugedeckt, immer waren alle zusammen, es gab keine Wackler und keine Ausstiege. BRAVO!!!

Es bleibt zu hoffen, daß Hubes großes Talent auch mal endlich mit einem höheren Posten gewürdigt wird!!! Verdient hätte er es allemal! Ich wage zu bezweifeln, daß der GMD das annähernd so toll hingekriegt hätte. WFS