„Hänsel und Gretel“ – 22. Dezember 2004

Die Vorweihnachtszeit beschert den Theaterbesuchern in Deutschland stets das Vergnügen, eine große Anzahl von Kindern jeder Altersstufe neben sich im Zuschauerraum zu haben. Traditionell werden diese nämlich von ihren Eltern zumindest einmal im Jahr, eben zu dieser besonderen Zeit, in eine kulturelle Veranstaltung verschleppt.

Eigentlich ist dagegen nichts einzuwenden, insbesondere wenn die Kinder wie an diesem Abend in Lübeck gespannt auf ihren Plätzen sitzen und interessiert der Handlung folgen. Besagte Tradition beinhaltet allerdings, daß man nicht irgendein Stück besucht, sondern eines für Kinder. Meist fällt die Wahl auf „Hänsel und Gretel“. Der Grund, weshalb seit Jahrzehnten bedauernswerten, kleinen Kinder die ohnehin schon schleichende Zeit vor dem Fest mittels dieses musikalisch faden Märchen verlängert wird, blieb uns bisher verborgen.

Die Idee, dem Nachwuchs die Musikform Oper näherzubringen, funktioniert unserer Auffassung nach mittels eines echten Verdi-Schockers oder gar Puccinis „Tosca“ wesentlich besser. Da passiert nämlich was, und unheimlicher als die Story um zwei Kinder, die im Wald verlaufen und am Ende die Hexe verbrennen, ist „Rigoletto“ auch nicht.

Nicht nur Kinder sind neugierig, und so nutzten wir einen der letzten freien Abende vor dem Weihnachtsfest, um herausfinden, wie das Lübecker Theater sich mit Humperdincks Werk auseinandersetzt.

Nach der langen Vorrede sei das Fazit an den Anfang gestellt: Besser kann man es eigentlich nicht machen!

Regisseur Michael SCHEIDL brachte eine flotte Deutung auf die Bühne, die er unauffällig mit einer neuen Sichtweise (siehe Programmheft) würzte, ohne die Handlung übertrieben zu deuten oder ihr einen überzeichnet modernen Rahmen zu geben. Nur manchmal standen die Sänger etwas hilflos wirkend an der Rampe, wenn sie eigentlich „singen und springen“ sollten, doch diese wenigen Momente kann man getrost vernachlässigen. Überwiegend gab es hübsche Einfälle, ein Teddy wurde ebenfalls in einen Pfefferkuchen verwandelt, die Besen der Hexe sind äußerst tanzwütig, und der Wald wirkt geradezu fantasymäßig magisch.

Nichts an dieser Produktion war aufdringlich. Alles fügte sich einen gut durchdachten Gesamtkontext. In der Ausstattung von Michael GODEN durfte das Märchen ein Märchen sein. Man bestaunte wunderschöne, teils sehr farbige Kostüme auf einer Bühne, auf der der Wald erkennbar ein Wald ist und das Hexenhaus ein Hexenhaus.

Dank Frank Maximillian HUBEs engagierter Leitung und dem so exakten wie animierten Spiel der LÜBECKER PHILHARMONIKER wurde der Abend zudem auf dem musikalischen Sektor bedeutend kurzweiliger als erwartet. Es wagnerte gar heftig aus dem Graben, und es machte Spaß nebenbei die musikalische Verwandtschaft zu Opern wie „Rheingold“ oder den „Meistersingern“ zu entdecken.

Annette PFEIFER war als Hänsel schlichtweg der Sympathieträger. Neben der Tatsache, daß sie einen glaubhaften Jungen darstellen kann, sang sie einfach prachtvoll. Gretel, an diesem Abend gut von Imke LOOFT interpretiert, stand ihrem Bruder beim Unfug machen in nichts nach. Beide Sängerinnen schafften es dankenswerterweise, dabei nicht „neckisch“ zu wirken.

Mardi BYERS stellte eine glaubhafte überforderte Mutter auf die Bühne, der Bösartigkeit als Motiv ihrer Handlungen eher fremd sein dürfte. Es gelang ihr, nicht schrill zu klingen, wie dies bei vielen Gertruds der Fall ist. Marco STELLA als Besenbinder sang die Rolle mit viel Einsatz und spielt glaubwürdig einen gutherzigen, aber dem Alkohol übermäßig zugetanen einfachen Mann. (Sein Hut allerdings dürfte in dieser Produktion den Preis für den Ausstattungsgau gewinnen.)

Sichtlichen und hörbaren Spaß hatte Chantal MATHIAS an ihren Auftritten als Sand- und Taumännchen, die sie gesanglich absolut souverän durchmaß.

Über das einzige Manko des Abend kann man leider nicht schweigen. Mario DIAZ war als Knusperhexe nicht halb so komisch, wie er sich selbst fand, und über den desolaten Zustand seiner Stimme muß nicht noch mehr Speicherplatz auf dieser Site verschwendet werden.

CHOR und KINDERCHOR (Einstudierung: Joseph FEIGL) klangen sehr homogen, was ja speziell beim Kinderchor keine Selbstverständlichkeit ist. MK/AHS