„THE RAKE'S PROGRESS“ – 12. Juni 2005

Nach Lübeck fahren oder zuhause bleiben? Diese Frage beschäftigte mich das halbe Wochenende. Sollte ich mir im Lübecker Theater "Rake's Progress" ansehen bzw. hören oder doch lieber vom Sofa aus meinem Lieblingsfahrer beim F1-Rennen in Montreal die Daumen drücken??? Das Wetter war da keine Entscheidungshilfe, aber letztendlich trieb mich dann doch die Neugier nach Lübeck.

Es war ein guter Entschluß, denn trotz allem, was ich im Vorfeld über diese Strawinsky-Produktion gehört hatte, wurde es ein amüsanter Abend mit musikalischen Highlights.

Jakob PETERS-MESSER ist mit seiner Regie nicht der ganz große Wurf an Innovation und Inspiration gelungen, doch das Geschehen auf der Bühne zeugte von solider handwerklicher Arbeit.

Hin und wieder wurde allerdings der Symbolhammer überstrapaziert. So ist die provinzielle Enge so gravierend, daß die Tür der guten Stube selbst Vater Trulove zu eng ist. Anne und ihre Welt sind von strahlendem Weiß, während die feindliche Welt außerhalb – und somit auch Nick Shadow und sein Umfeld – den rot-schwarzen Gegenpol darstellen (Bühnenbild: Markus MEYER).

Die „Realität“, in der das Absurde stattfindet, ist, ähnlich wie in der „Nos“-Inszenierung am Lübecker Theater vor ein paar Jahren, so überfrachtet, daß zu wenig noch absurd erscheint.

Der Chor trägt T-Shirts (Kostüme: Sven BINDSEIL) beschriftet mit zur jeweiligen Szene passenden englischen Worten (u.a. "Peep" und "Show" sowie das wohlbekannte F***-Wort), Baba, the Turk präsentiert ihre (angebliche) Monstrosität offen, und das Outfit, in das man Mother Goose gepreßt hat, ist reichlich unkleidsam und aus meiner Sicht für ihre Berufsausübung z.T. auch wenig praktikabel. Die von Tom erträumte Maschine zur wundersamen Broterzeugung ist ein überdimensionaler Toaster.

Die Gestaltung des Epilog ist mit seinen Anklängen ans „Falstaff“-Finale (*LOL*) einfach grandios gelungen.

Die Entscheidung, Andrew FRIEDHOFF nach dem Faust auch den Tom Rakewell zu übertragen, kann im besten Fall als eine sehr zweifelhafte bezeichnet werden. Der Vorteil des Egomanen Tom ist, daß hier weniger auffällt, daß der Tenor versucht, eher sich selbst zu präsentieren, anstatt sich in den Dienst der Rolle zu stellen. Seine musikalische Leistung ist einzig als kläglich zu bewerten. Neben den bereits im „Faust“ gehörten Fehlern kamen hier vermehrt Töne dazu, die klangen, als würden sie nach hinten wegkippen und langsam die Kehle des Sängern wieder hinunterschrammen. Im ganzen also nicht einmal ein "work in progress".

Das Konzept des Regisseurs, Nick Shadow zum dunklen Teil der Rakewell'schen Seele zu machen, geht so nicht auf. Die Leistung von Gerard QUINN war dafür auch einfach zu überragend. Sein Nick scheint geradewegs einem Schauerroman der Romantik oder einer Geschichte Edgar Allan Poes entstiegen. Einen Schatten nur – schwer greifbar, diabolisch und doch in der Alltäglichkeit seines Tuns sehr real. Dem Bariton gelingt es besonders gut, die intensive Verbindung zwischen Text und Musik durch pointierten Gesang und exzellente Sprachbehandlung deutlich zu machen.

Anne Truelove, die Reine und bedingungslos Positive, die ihrem Tom letztlich bis in die Irrenanstalt folgt und erst spät den Glauben an ihn verliert, erhält in Lübeck eine sehr gute musikalische Charakterisierung. Daß Figur die meiste Zeit eher eindimensional wirkt, liegt keinesfalls an Stefanie KUNSCHKE, sondern ist vielmehr darin begründet, wie die Rolle von vornherein angelegt ist. Das, was der Sängerin an Gestaltungsmöglichkeit zur Verfügung steht, nutzt sie um so stärker und macht die Entwicklung der Figur und damit auch deren schlußendliche Entscheidung gegen Tom deutlich nachvollziehbar.

Patrick BUSERT macht die Versteigerungsszene zu einem Highlight der Inszenierung. Er zeichnet Sellem, den Auktionator, als quirlige Gestalt, die völlig in seiner Aufgabe, Toms verbleibende Habe an das staunende Volk zu versteigern, aufgeht, ohne daß das eigene Staunen abhanden kommt. Auch musikalisch meistert er die Partie hervorragend, empfiehlt sich letztendlich erneut für größere Aufgaben. Seine ausgezeichnete Diktion und der makellose Gesang sind nur zu loben.

Auch Alina GURINA versteht es, ihre Rolle zu einer kleinen Sensation zu machen. Frisurtechnisch an Frankensteins Braut erinnernd stolziert Baba, the Turk auf Highheels durch Haus und Leben Tom Rakewells und besitzt auch mit einem über den Kopf gestreiften Pappkarton nur eine unglaubliche Präsenz. Grandios gesungen war ihre Tirade, unterbrochen von den Nachfragen an ihren Göttergatten – Szenen einer Ehe...

Andreas HALLER liefert als Vater Truelove eine solide Leistung, während Dorothea STAMOWA doch mit dem einen oder anderen gesanglichen Defizit zu kämpfen hat.

CHOR und EXTRACHOR klangen sehr homogen und meisterten die z.T. nicht sehr einfache Umsetzung von Strawinskys Musik gepaart mit dem szenischen Konzept sehr souverän.

Frank Maximilian HUBE leitet den Abend mit der hohen Professionalität und Musikalität, die zum Standard in seinen Vorstellungen gehören. Es gibt keine Längen, keine Langeweile. Das LÜBECKER PHILHARMONISCHE ORCHESTER hatte nicht seinen besten Abend, spielte aber meist zuverlässig und rundete damit einen gelungenen Abend ab. AHS

P.S. Falls es jemanden interessiert: Der besagte Formel1-Fahrer mußte in der 63. Runde wegen Bremsdefekts das Rennen aufgeben. :-(