"DER KUSS DER SPINNENFRAU" - 28. Oktober 2006

"What have they done, sweet Jesus, what have they done?" schoß es mir, in leichter Abwandlung von Jean Valjeans Aufschrei in "Les Mis" während des Abends mehrfach durch den Kopf. Ich bin eine große Verehrerin des Filmes mit William Hurt und Raul Julia, ich habe den Roman von Manuel Puig mehr als einmal gelesen, und grundsätzlich habe ich auch nichts gegen John Kanders und Fred Ebbs Musical-Version, auch wenn mir persönlich mißfällt, daß Valentin mit Molina nur schläft, damit letzterer Informationen zu Valentins Kampfgenossen bringt, da dies die Beziehung zwischen beiden im Gegensatz zu Roman und Film deutlich ändert. Aber was in Lübeck aus dem Stoff gemacht wurde, läßt schmerzlich alles vermissen, was ihn ausmacht.

Ein Stück über Folter auf die Bühne zu bringen, sollte nicht heißen, daß man das Publikum foltert mit schlechter Regie, nicht nachvollziehbarem Bühnenbild sowie indiskutablen darstellerischen und gesanglichen Leistungen. Das Stück sollte an die Nieren gehen, nicht auf die Nerven.

Was Pascale CHEVROTON, die sowohl für Regie als auch Choreographie verantwortlich zeichnete, für diese Produktion prädestinierte, ist nicht nachzuvollziehen. Die Choreographie war, wie dies schon bei früheren Arbeiten von ihr festzustellen war, ungelenk. Die Regie war nicht einmal das. Da fand zwischen Molina und Valentin nichts statt, man fragte sich verzweifelt, was die beiden eigentlich verbindet. Die Szene, in welcher Valentin vergiftet wird, seine letzte Würde verliert und sich von Molina pflegen lassen muß, ist vollkommen verschenkt.

Warum das Ganze in einer Art Tunnel spielt, und die Zelle der beiden Männer vor der Pause anders aussieht als danach (Bühnenbild Jürgen KIRNER), erschließt sich auch nicht. Gerade im ersten Akt, in welchem die Zelle am rechten Bühnenrand ist, scheint der einzige Grund dafür zu sein, daß man Platz für Tanzszenen benötigt. Weder Valentins Freundin Martha, noch Molinas Mutter tauchen als Personen auf. Die dauernde Anwesenheit von Angst, Folter und Verzweiflung wird zu keinem Zeitpunkt greifbar. Immerhin kann man über die Kostüme von Tanja LIEBERMANN nicht meckern.

Das Stück steht und fällt mit der Besetzung der beiden Hauptrollen. In diesem Fall fällt es. Tilmann v. BLOMBERG scheint mit dem Molina nichts anfangen zu können. Er bleibt blaß, liegt stimmlich häufig daneben und schafft es nicht eine Sekunde, Mitgefühl mit dieser Figur zu wecken oder eine Identifikation zu ermöglichen. Daß Molina dadurch Größe erlangt, daß er seine Phantasien nicht einsperren läßt, scheint weder Regisseurin noch Darsteller bewußt zu sein.

Thomas CHRIST als Valentin, über dessen gesangliche Leistung man lieber den Mantel des Schweigens breiten sollte, spielt die Rolle als geistlosen Prolet. Warum Molina sich in diesen Kerl verlieben sollte, kann nur damit erklärt werden, daß gerade kein anderer Mann verfügbar war. Ein von seinen Idealen überzeugter Revolutionär sieht anders aus. Beide haben zudem erhebliche Probleme, die Dialoge sauber über die Bühne zu bringen.

Aurora, die Spinnenfrau, wurde von Vasiliki ROUSSI verkörpert. Ihre gesangliche, tänzerische und darstellerische Leistung war von derart, daß man sie zwei Sekunden später nicht mehr erinnerte. Warum sich Molina ausgerechnet diese Frau als Flucht aus der tristen Gefängniszelle erträumt, bleibt sein Geheimnis. Der Gefängnisdirektor, hier mit einer Frau (Andrea JOLLY) besetzt, ließ jegliche Gefährlichkeit vermissen, hier sprach nur jemand einfach den Text, meist in einer Proszeniumsloge plaziert.

Und wenn man glaubt, es könne nicht noch schlimmer werden, passiert genau das. Gabriel, der von Molina angebetete Kellner, wird von Kai BRONISCH quasi hingerichtet. Ich habe selten auf einer professionellen Bühne jemanden so neben der vorgegebenen Tonhöhe singen gehört. Die beiden Gefängnisaufseher Esteban (Timo KLEIN) und Marcos (Arno MAUBACH) blieben ebenso blaß wie die restlichen Gefangenen bzw. Auroras Männer. Der HERRENCHOR (Leitung Joseph FEIGL) stieg ein ums andere Mal aus.

Einzig positiver Aspekt des Abends war das PHILHARMONISCHE ORCHESTER unter Leiter von Ludwig PFLANZ, die unangefochten von dem, was da auf der Bühne vor sich ging bzw. nicht vor sich ging, die teilweise sehr schmissigen Melodien auf hohem Niveau spielten und eine Ahnung weckten, was hätte sein können; daß beispielsweise Valentins große Solo-Nummer eigentlich eine mitreißende Revolutionshymne ist... Aber, ach, es sollte nicht sein. MK

P.S.: Ich bin davon überzeugt, daß die Erstbesetzung des Molina Steffen Kubach der Figur darstellerisches Profil und vor allem Würde gegeben hätte, zumal er die Rolle auch hätte SINGEN können, aber ich sehe mich ob des obigen Desasters nicht in der Lage, mich davon zu überzeugen und mich dieser Produktion noch einmal auszusetzen.