"LES MISÉRABLES" - 21. September 2007 (Premiere)

Als zweite Musiktheaterpremiere 2007/2008 wählte man am Theater Lübeck ein Stück, das sich bereits deutschlandweit als Renner erwiesen hat: Boublils und Schönbergs Musical "Les Misérables". Leider hatte sich das anscheinend noch nicht herum gesprochen, so daß die Premiere weniger gut besucht war. Schade, denn ein Grund zum Wegbleiben ist die Produktion in keinem Fall.

Regisseur Wolf WIDDER orientiert sich mit seiner Deutung sehr stark an Hugos Buch. Manchmal ist es zwar zuviel des Guten und Überfrachtung droht, aber alles in allem bekommt man eine zweckmäßige Inszenierung geboten.

Gut, es wirkte ein wenig absurd, daß "Bettler ans Buffet" hier wörtlich genommen wird, zumal eine soziale Attitüde kaum dem Charakter Thenardiers entspricht. Auch das Fließband in der Fabrik sowie die Szene vom Ende der Barrikade, die ob ihres übertriebenen Pathos und der Choreographie meilenweit an der Musik vorbei komplett daneben geriet, kann man besser umsetzen. Doch Einfälle wie die, daß Valjean seinen gelben Schein zerreißt und Cosette tatsächlich mit einer Puppe aus Kochlöffeln spielt sowie die Szene am Ende, in der die Toten sämtlichst auf der Bühne erscheinen, waren gut gesetzt.

Thomas CHRIST konnte als Jean Valjean sein Potential bedeutend besser verkaufen als in der vergangenen Spielzeit. Zwar ließ er bis zur Szene, in der Valjean Marius seine Identität enthüllt, die Entwicklung der Figur vermissen, doch musikalisch war er dem Ganzen gewachsen und brachte die nötige Verve mit.

Die Besetzung von Steffen KUBACH als Javert war eines der bei uns über den Sommer heißdiskutiertesten Themen. Doch letztendlich erwies gerade er sich als das Highlight der Produktion. Der Sänger hatte jede Szene im Griff, in der er erschien. Sein Polizeiinspektor, recht ungewohnt mit Bart und vor allem ohne Stock, stand weniger in der Tradition Jagos oder Scarpias, sondern war vielmehr schlicht ein Mensch, der Regeln und Vorschriften braucht, um sein Leben in der Bahn zu halten. Der Verlust dieses Dogmas bringt rollenkonform den augenblicklichen Zusammenbruch eines ganzen Weltbildes.

Gesanglich habe ich in der deutschen Version bisher noch niemanden gehört, dem die Balance zwischen kraftvollen Ausdruck und lyrischer Umsetzung so perfekt gelang. Allein dies macht die Produktion hörenswert. Der Jubel am Ende war nicht mehr als verdienter Lohn für eine tadellose Leistung.

Ein wenig erinnerte Katharina SCHUTZAs Eponine an Bellatrix Lestrange im letzten Harry Potter-Film. Mit wüster Friseur und entsprechendem Outfit ausgestattet, wirbelte sie durch ihre erste Szene, hatte später aber auch genug Ausdruck und Gefühl für die weitere Entwicklung ihrer Figur. Simone TSCHÖKE kämpfte sich tapfer durch die Noten Fantines. Es steht zu hoffen, daß die Schwierigkeiten der Abendform geschuldet waren, denn ihre darstellerische Interpretation war imponierend.

Der Thenardier von Manfred OHNOUTKA kam widerwärtig und höchst unsympathisch, also rollenkonform, daher. Der Charakter war somit dicht am Buch ohne den normalerweise vorhandenen, komischen Bonus im Musical. Einen drauf setzte hier allerdings Simone MENDE als Madame Thenardier. Von ihr sah und hörte man eine gelungene Milieustudie - herrlich schräg, hundsgemein und mit beeindruckendem Stimmaterial.

Andrea STADELs Cosette war leider nur ein Alptraum in Rüschen. Dabei kann man aus der Figur wesentlich mehr machen als ein ewig lächelndes Dämchen. Der übertrieben soubrettig klingende Gesang und der Versuch, die Rolle wie eine Opernpartie zu singen, taten ein übrigens zu diesem Desaster. Ihr zur Seite gefiel sich Tomasz DZIECIELSKI so sehr als Musicaldarsteller, daß Marius als Charakter auf der Strecke blieb. Allerdings verfügt er zumindest über eine Stimme, die ihn die Rolle mit Anstand singen ließ.

Kai BRONISCH gelang nicht einmal das. Streckenweise ging sein Enjolras musikalisch komplett unter. Dazu fehlte es ihm an dem so wichtigen Charisma und Präsenz. Beides besaßen die übrigen Studenten glücklicherweise im Überfluß. Mark McCONNELL (Combeferre), Maxim KURTSBERG (Courfeyrac), Lars JACOBSEN (Joly), Yong-Ho CHOI (Grantaire) und Young-Soo RYU (Prouvaire) präsentierten sich in diesen wie auch in allen weiteren von ihnen interpretierten Rollen hervorragend. Joao CARRERA sang nicht nur einen charmanten Feuilly, sondern insbesondere auch einen wunderbar schmierigen Bamatobois.

Eine interessante und obendrein musikalisch hochklassige Darbietung des Bischofs hörte man von Ivan LOVRIC-CAPARIN (Wow!). Enrico-Adrian RADU war in x-Rollen irgendwie permanent auf der Bühne zu sehen. Er machte seine Sache erwartungsgemäß sehr gut. Lucas KUNZE, Aleksej SINICA, Chul-Soo KIM, Tomasz MYSLIWIEC präsentierten die verschiedenen männlichen Charaktere ebensogut wie Krystyna HOFFMANN, Ulrike HILLER, Gisela PRUSEK, Birgit MACZIEY, Andrea ALEXANDER, Daniela Henriette WÖHLER, Dorothea STAMOVA, Therese MEINIG und Margrit CUWIE die weiblichen.

Anton KREBBER war als Gavroche einfach nur nervtötend und spielte übertrieben plakativ, weshalb Antonia REINLÄNDER (kl. Cosette), aber besonders Ronja LEHMANN als kleine Eponine eher eine Lanze für singende/spielende Kinder auf der Bühne brechen konnten.

CHOR und EXTRACHOR machten ihre Sache sehr gut. Die Massenchoreographien gerieten nie aus den Fugen und optimal geprobt, klang auch alles vollkommen virtuos. Kurzum, den Jubel, der Joseph FEIGL für seine Chorleitung zum Schußapplaus entgegenschallte, war mehr als gerechtfertigt.

Enttäuschend war diesmal das Dirigat von Ludwig PFLANZ. Anstelle der gewohnt frischen Tempi hetzte der Dirigent durch den Abend, so daß sich weder Sängern, noch Publikum Gelegenheit zum Luftholen blieb. Schade, denn es gibt sie in "Les Mis", die Momente, in denen die Handlung innehält und für einen Augenblick schlicht nichts außer ein bißchen Romantik passiert. Das minimierte, gut disponierte ORCHESTER kam da noch am besten mit. AHS