"ANDREA CHENIER" - 31. Mai 2009

Lübeck hat wieder einmal die Nase vorn: während man dort Giordanos Revolutionsoper in dieser Spielzeit szenisch auf die Bühne gebracht hat, müssen die Hamburger bis zur nächsten Saison warten, um das Werk nach fünfundfünfzigjähriger Bühnenabstinenz (der letzte Chenier hier war Peter Anders!) für gerade einmal vier Aufführungen konzertant geboten zu bekommen - dafür gibt es Raritäten wie "Aida" und "Lucia di Lammermoor" erneut szenisch, nun ja….

Die in Hamburg dafür angekündigten Stars kann Lübeck natürlich nicht bieten. Aber es wird zum größeren Teil trotzdem hervorragend gesungen, auch wenn es das übliche Problem vieler Opern-Dreiecksgeschichten gibt: warum nur will der Sopran unbedingt zusammen mit dem Tenor sterben, anstatt mit dem Bariton weiterzuleben, obwohl der nicht nur besser singt, sondern auch noch besser aussieht? Antonio YANG besitzt eigentlich alles, was man für den Gerard braucht: einen kernigen, gut fokussierten Bariton von beachtlichem Volumen, dramatische Attacke und die Fähigkeit, große Bögen zu formen (wobei er das ein oder andere Zwischenatmen sicher noch abstellen könnte). Dazu kommt eine ausgesprochen textbezogene Phrasierung, über der er gleichwohl nie die Linie vernachlässigt - eine Fähigkeit, die ihn 2007 zu einem ungewöhnlich belcantesken Alberich hatte werden lassen.

Vom Material her könnte ihm Titelheld Mario DIAZ sicherlich Paroli bieten, aber das eigentlich angenehm baritonale Organ, das im Prinzip auch über genügend Höhenfanfare verfügen würde, klingt aufgrund mangelhaften Stimmsitzes praktisch permanent unter Druck; die Fortepassagen, von denen die Rolle viele aufweist, geraten wegen der fehlenden Technik zum - zunehmend gefährdeten - Kraftakt, bei dem er sich am Ende von "Come un bel dì di maggio" nurmehr fast gesprochen rettet.

Als von Beiden umworbene Maddalena di Coigny sorgte Ausrine STUNDYTE mit "La mamma morta" für den ganz großen Höhepunkt des Nachmittags; so mühelos großformatig in den Ausbrüchen bei gleichzeitiger Fähigkeit, die Stimme bis ins pp wegzunehmen, und so intensiv gestalterisch hört man das auch an großen Häusern von prominenteren Namen nicht so schnell.

Weniger glücklich war ich mit der szenischen Seite. Sicher, Bernd Reiner KRIEGER (von dem mir aus Schwerin noch eine sehr gute "Rusalka" in Erinnerung ist) hat nicht gegen das Stück gearbeitet, aber leider auch keine besondere Spannung aufkommen lassen. Die zu Beginn von der Decke herabschwebenden Kostüme scheinen auf "Theater auf dem Theater" hinzudeuten, oder aber auf einen Maskenball à la "ancien regime", denn einige der Herren tragen heutige Frisuren und Brillen, und bei Gerard kommen höchst moderne Hosenträger zum Vorschein, wenn er sich die Livree abreißt. Und das sichtbare Umziehen von Fleville und Abbé für die Partien des Roucher bzw. L'Incroyable kann sowohl Fortführung des Theaterspielens als auch Brandmarkung von "Wendehälsen" in der Revolution darstellen; es bleibt letztlich unklar, da keine bis zum Ende durchgehende Linie erkennbar wird. Schwerer wiegt für mich allerdings, daß Krieger letztlich mehr arrangiert als inszeniert hat.

Das mag zum Teil dem in der Art alter RAI-Videos als Rampensteher agierenden Tenor geschuldet sein, aber es mangelt grundsätzlich an Beziehung zwischen den Figuren. Die Begegnung Maddalena/Chenier im 2. Akt findet als Treffen zweier Salzsäulen statt, bei dem die plötzliche Umarmung am Ende ob ihrer Plötzlichkeit schon fast komische Züge bekommt. Und die Auseinandersetzung Maddalena/Gerard verpufft, weil Krieger den Bariton völlig sinnlos auf die Tribüne schickt, wo er seine Ausbrüche aus der Distanz abläßt.

Diese Tribüne (Ausstattung Dieter KLASS) baut den ganzen dritten Akt zudem derart zu, daß dem CHOR kaum mehr als "reinkommen - rumstehen - rausgehen" möglich ist, was die ansonsten gut singenden Lübecker Damen und Herren in der gelangweilt wirkenden Art bewerkstelligen, die Kollektive meist an den Tag legen, wenn sie nicht gefordert sind. Auch in den beiden ersten Akten ist der Chor mehr bühnenfüllende Staffage als daß er wirklich bewegt würde. Aktion gibt es dafür ausgerechnet bei "Come un bel dì" als eigentlich intimstem Moment der Oper, wenn den für die Guillotine Bestimmten die ganze Arie über die Haare im Nacken abgeschnitten werden.

In den kleineren Partien fällt vor allem Patrick BUSERT als Abbé und L'Incroyable auf, weniger aus stimmlichen Gründen, sondern wegen seiner unglaublichen Bühnenpräsenz, die einen geradezu anspringt. Andreas HALLER zeigt in gleich drei Partien Wandlungsfähigkeit, wobei ihm Cheniers Dichterfreund Roucher und der Revolutionsankläger Fouquier-Tinville deutlich besser in der Kehle liegen als der schmachtende Poet Fleville, für den es eigentlich einen lyrischen Bariton braucht.

Wioletta HEBROWSKA singt sowohl die Gräfin di Coigny als auch die alte Madelon sehr schön, ist aber schlicht viel zu jung für die Partien, die ansonsten ja eher mit "Aufhörern" und nicht mit dem Nachwuchs besetzt werden. Hye-Sung NA ist eine durchschlagskräftige, jugendliche Bersi, und Steffen KUBACH verleiht dem Sansculotten Mathieu mit leicht angerauhter Stimme ein rollendeckend proletarisches Profil.

Im Graben demonstriert Philippe BACH einmal mehr die erstaunlichen klanglichen Möglichkeiten des Lübecker ORCHESTERs, wobei er bei aller erfreulichen Farbigkeit des öfteren entschieden zu viel tut, weniger Lautstärke wäre mehr. HK