DER MUSIK NEUE KLEIDER

Bin ich vielleicht für diese Art von Musik einfach zu alt? Ein Blick auf das Geburtsjahr des Komponisten Thomas Adès sagt mir, daß dies eigentlich genau meine Sache sein könnte. Ist es aber nicht.

Vielmehr stellt sich mir die Frage, weshalb nur wenige moderne Komponisten in der Lage sind, ihre Opern so zu schreiben, daß sie für die Sänger nicht fast ausschließlich mal an dem einen oder anderen Extrem ihres Stimmumfanges liegen (es gibt nicht nur Höhen und Tiefen, sondern im Allgemeinen auch eine Mittellage). Dies ist nicht nur schwierig zu lernen und zu singen, sondern bei einem Hauch von Empathie auch anstrengend anzuhören. Schreibt man heutzutage als tonal-tätiger Komponist mit stimmorientiertem Stil nur mehr Musicals, weil dies im Erfolgsfall ggf. besser bezahlt wird? Ich weiß es nicht.

Das Libretto von Meredith Oakes orientiert sich an Shakespeares "The Tempest". Es erzählt die Geschichte von Prospero, der auf einer einsamen Insel durch Magie nach seinem Gutdünken schaltet und waltet, bis ihm die Liebe seiner Tochter zum Sohn seines Königs und die (erneute) Begegnung mit jenem König und seinem eigenen Bruder am Leben scheitern läßt. [Aus Gründen der Lesbarkeit findet sich eine längere Zusammenfassung der Geschichte hier.]

Das Theater Lübeck hat, was höchst erfreulich ist, die Möglichkeit, die meisten der Rollen in "The Tempest" aus seinem Ensemble sowie dem Opernelitestudio zu besetzen und das mit der Garantie eines qualitativ hochwertigen Abends.

An erster Stelle beeindruckte Gerard QUINN als bühnenbeherrschender Prospero nicht allein durch seine stimmlichen Fähigkeiten und die bewundernswerte Bewältigung der Tücken der Partie, sondern auch durch seine überragende Präsenz und die fast greifbare Ruhe wie Erhabenheit, mit der er dem vertriebenen Herzog eine unglaublichen Würde verlieh. Das war schon pinteresk. Dame Hilda Bracket wäre hier nicht allein von der Diktion begeistert gewesen.

An Prosperos Seite hat Ariel alle Fäden der Geschehnisse in der Hand. Louise FRIBO bewältigte die höllischen Koloraturen, die ob ihrer Höhen schon dicht an der Wohlfühlgrenze des menschlichen Gehörs liegen, gut und konnte insgesamt mehr überzeugen als mit ihrer Lübecker Zerbinetta vor einigen Jahren. Ihr Luftgeist war quietschlebendig und eilte rollenkonform von einem Streich zum nächsten.

Patrick BUSERT, als erkrankt angesagt, konnte Caliban nur mehr spielen, was er denn auch gewohnt souverän und lebhaft tat, während Christopher LEMMINGS den Gesangspart übernahm. Letzterer hat die Rolle bereits in London und Straßburg gesungen. Bei ihm saßen zwar alle Töne, doch man vermißte ein wenig Gefühl und Leidenschaft in der Stimme.

Besonders zu berühren wußte Anne ELLERSIEK als Miranda, die den Zwiespalt zwischen der ergebenen, liebenden Tochter und der frischverliebten jungen Frau gut erkennbar machte. Ihre Stimme ist wirklich schön, besitzt aber auch bereits Charakter und eine Vielzahl an Farben, was die Sängerin geschickt für ihre Zeichnung der Figur nutzte. Neben soviel Energie war es für Daniel SZEILI als Ferdinand nicht leicht dem beizukommen. Er hielt sich wacker und klang annehmbarer als bei den letzten Begegnungen mit ihm. Die Höhen sitzen allerdings noch nicht perfekt.

Die Reisegesellschaft des Königs von Neapel ist in Lübeck illuster besetzt. Steffen KUBACH als Sebastian, herrlich verklemmter Bürohengst und Bruder des König, oder Andreas HALLER, dessen Gonzalo mehr einem Sektenguru denn einem ehrwürdigen Berater glich, überzeugten durch stimmliche wie darstellerische Präsenz und durch Freude an der überspitzten Charakterisierung.

Szymon CHOJNACKI als Stefano und David CORDIER als Trinculo gaben ein echtes Touristen-Alptraum-Team. Sie zeigten viel Freude an der ihnen auferlegten Interpretation und legten sich auch gesanglich entsprechend ins Zeug. Es war schlicht ein Vergnügen, ihnen zuzuhören. Für Patricio ARROYO (Antonio) galt das leider weniger.

Als schwer am Verlust des Sohnes tragenden König von Neapel konnte man Andrew SRITHERAN bewundern. Neben seiner wahrlich heldentenoralen Attitüde und dem entsprechend perfekten Gesang brillierte er mit der in seinem Fach vermutlich ihresgleichen suchenden Darstellung eines Nagetiers.

Gesungen wurde in englischer Sprache und zwar durchweg mit sehr guter Diktion. Das eine oder andere Wort ging freilich aufgrund der zu singenden Höhe verloren, was aber ohrenscheinlich nie am jeweiligen Künstler, sondern an den verlangten höchsten Tönen lag.

Auch der Lübecker CHOR zeichnete sich durch eine exzellente Wortdeutlichkeit aus. Daß die Damen und Herren neben ihren verschiedenen zusätzlichen Pflichten wie dem Aufbau von Liegestühlen und der gekonnten Darstellung einer Pinguinherde auch akkurat und wohlklingend sangen, war sehr angenehm, aber glücklicherweise nicht überraschend (Joseph FEIGL sei Dank).

Das PHILHARMONISCHE ORCHESTER war auf der Bühne hinter der Kulisse plaziert, was eine eindeutige Bewertung schwierig macht. Was man hören konnte, klang gut disponiert, ob der Musik wäre der eine oder andere schräge Ton aber vermutlich ohnehin nicht aufgefallen. Philippe BACH hatte die schwierige Aufgabe, den Abend mit dem Rücken zu den Sängern und mit Kopfhörer auf den Ohren zu leiten, was ihm auffallend gut und sicher gelang.

Regisseur Reto NICKLER erzählte die Geschichte auf eine sehr bunte, schrille Weise. Ob dies notgetan hätte, sei einmal dahingestellt, anstrengend war es über weite Strecken allemal. Beeindruckt hat mich die Darstellung des Sturms durch den Chor zu Beginn des Abends, die allein durch geschickte Choreographie (choreographische Mitarbeit: Martina WÜST) und ausgefeilte Lichtregie tatsächlich die lebensnahe Illusion eines Sturm erzeugte.

Die Funktion der im Besetzungszettel als "Entertainer" aufgeführten Mitglieder der TANZ-STATISTERIE THEATER LÜBECK blieb im Dunkeln. Sie fungierten meist als Animateure der königlichen Gesellschaft, was dem Ganzen einen leichten Anflug jener "Little Britain"-Folge gab, in der Lou und Andy auf einer Insel stranden.

Die Spielfläche war bis über den Orchestergraben ausgeweitet worden. Dreh- und Angelpunkt des Abends im wahrsten Sinne war eine runde, schräg gesetzte Scheibe. Auf deren einer Seite stand ein Klettergerüst mit Schaukel, das zumeist Ariel als Spielplatz diente, aber auch von anderen Figuren genutzt wurde, während man gegenüber eine stilisierte Palme bewundern konnte (Bühnenbild: Hartmut SCHÖRGHOFER). Das Gebäude im Hintergrund diente zum einen als Abgrenzung zum Orchester, bot aber zum anderen mit seiner zweiten Etage eine zusätzliche Spielfläche, während unten Prosperos Refugium untergebracht war.

Die Kostüme von Corinna CROME boten alles vom schrägbunten Touristenoutfit, das der farbenfrohen Maskierung Calibrans nicht unähnlich war, über eine typisch britisch wirkende Geschäftskleidung für den Chor, Ariels Schuluniform und Mirandas Mini (Shorts?) bis hin zu Prosperos stückzeitkonformen Gewand. Seiner Zauberkraft gab der Ex-Herzog mittels Gauntlet (Panzerhandschuh klingt hier nicht halb so schön) und eines langen, beleuchteten Stabs Ausdruck, was recht eindrucksvoll wirkte.

Leider fehlte dem schrillen Treiben hin und wieder die bindende Form, so daß man dem recht guten Gespür der Sänger für ihren jeweiligen Charakter dankbar folgte.

Der Premierenabend war beinahe ausverkauft. Doch so einhellig positiv wie gewünscht, war die Reaktion des Publikums nicht. Im Parkett hatten sich die Reihen nach der Pause durchaus gelichtet. Neben dem Jubel eines Teils der noch Anwesenden gab es am Ende des Abends auch das eine oder andere ratlose Gesicht. Es tut mir leid, aber auch für mich ist dieser Kaiser nackt. Es bleibt abzuwarten, wie "The Tempest" in den folgenden Vorstellungen angenommen werden wird. AHS