"THE TEMPEST" - 11. April, 6. und 29. Mai 2010

Knapp sechs Jahre nach der Uraufführung hat die erste große Oper des britischen Komponisten Thomas Adés (geb. 1971) - für die er sich gleich an Shakespeare als Vorlage traute - nun auch Deutschland erreicht. Nach der Frankfurter Erstaufführung im Januar wagte sich das Lübecker Theater an ein Werk, mit dem es - wieder einmal, und wieder einmal höchst erfolgreich - an seine Grenzen geht; und obendrein zählbaren Erfolg damit hat, zumindest die letzten Aufführungen waren restlos ausverkauft.

Adés , den man stilistisch wohl am ehesten einer "Postmoderne" zurechnen kann, die sich hemmungslos verschiedenster Stilmittel bedient (was ihr den Vorwurf des Ekklektizismus eingetragen hat), und bei der Fragen des Klanges und der theatralischen Wirkung eine größere Rolle spielen als musiktheoretische Überlegungen (wobei die Briten es mit der in Deutschland so beliebten Einordnung in "Schulen" ohnehin nicht so hatten), schreibt zwar für ein herkömmliches Orchester und mutet den Sängern auch keine Vierteltöne oder extremen Sprechgesang zu, aber er hatte die orchestralen Möglichkeiten des Covent Garden und eine Schar internationaler Solisten zur Verfügung, denen er entsprechend anspruchsvolle Aufgaben in Instrumente und Kehle legte.

Am deutlichsten wird dies beim Ariel, einem extrem hoch liegenden Koloratursopran, gegen den selbst die Zerbinetta als relativ gemütliche Angelegenheit erscheint. Wie sehr das speziell für die Fähigkeiten von Cyntha Sieden geschneidert war, läßt sich am besten daran erkennen, daß mit Louise FRIBO erstmalig eine andere Sängerin mit der Partie betraut wurde, eine Aufgabe, die sie souverän meisterte. Das ist nicht nur von atemberaubender Virtuosität in den schnellen Passagen sondern auch tonschön, und an Stellen wie dem mit drei hohen E gespickten Lockgesang für Ferdinand von geradezu ätherischer Lyrik.

Regisseur Reto NICKLER scheint ein gutes Händchen für das 20. Jh. zu haben (siehe "Elegie für junge Liebende" in Lübeck und "Moses und Aron" in Wien). Die Idee, die Szene ganz nach vorne bis über den geschlossenen Orchestergraben zu ziehen und die Instrumente hinter dieselbe zu setzen, erweist sich schon rein akustisch als Glücksgriff, denn die Stimmen geraten so nie in Gefahr, vom groß besetzten Orchester gedeckt zu werden. Interpretatorisch scheint mir ein Satz ziemlich zum Ende hin des von Meredith Oakes geschickt zusammengefaßten und gegenüber dem Prosa-Original in Versen abgefaßten Librettos als Schlüssel gedient zu haben, in dem von Prosperos Insel als "brave new world" die Rede ist. Dieses Originalzitat Shakespeares hat Aldous Huxley für seinen 1932 erschienenen Roman, in dem es unter anderem um gezielte Bewußtseinsveränderungen geht, als Titel benutzt. Und Nickler läßt die Wahnvorstellungen der durch Prosperos Macht gestrandeten Truppe nicht als reine Zaubereien, sondern als Auswirkungen gnadenloser Animateure erscheinen, die in einer Art "Club Mediterranée" den zunächst nach dem Motto "noch mal Glück gehabt" als ganz amüsant gesehenen Abenteuer-Urlaub zunehmend zum Horrortrip werden lassen.

Irgendwann halten die Gequälten sich sogar für Tiere, wobei Steffen KUBACH (Bruder des Königs von Neapel) als Albatros nicht nur wörtlich den Vogel abschießt. Hier zeigt einer den ganzen Abend über, was man mit nicht einmal aufregenden stimmlichen Mitteln aus einer mittleren Partie herausholen kann. Sein ehrgeizig verklemmter Beamter ist eine Charakterstudie ersten Grades, mit der er den international hochgehandelten Kollegen im Londoner Video glatt aussticht.

Gerard QUINN trägt als Prospero einen großen Handschuh, wenn er seine Zaubereien ausführt - und die Partie scheint seiner Stimme und Persönlichkeit wie ein solcher zu passen. Mühelos kommen sowohl die Spitzentöne als auch die vielen insgesamt unangenehm hoch liegenden Passagen, das warme Organ strömt frei und ohne Druck. Nur in der Tiefe gibt es ein paar maue Momente, die aber nicht weiter ins Gewicht fallen. Fast noch beeindruckender erscheint allerdings die musikalische und darstellerische Autorität, die er der vielschichtigen Rolle verleiht; gebieterischer Zauberer, liebevoller Vater oder resignierender Mensch - alles bekommt eine Vielzahl an Farben und dynamischen Schattierungen.

Seiner Tochter Miranda verleiht Anne ELLERSIEK mit ihrem leichten Sopran anrührende Züge, verträumt lyrisch in ihrer Liebe und mit genügend stimmlicher Energie, um auch das Eintreten für diese Liebe gegenüber dem Vater glaubhaft zu machen. Als Ferdinand hat Daniel SZEILI die eine oder andere Mühe mit der sehr hohen Tessitura, aber er verbessert sich in jeder der insgesamt drei besuchten Aufführungen, singt zunehmend lyrisch und ohne überflüssigen Kraftaufwand.

Für den Caliban gab es ungeplant zwei Besetzungen, denn der Lübecker Patrick BUSERT erkrankte zur Unzeit. In der Premiere stand er noch als darstellerisches Double für den singenden Christopher LEMMINGS (die Zweitbesetzung der Uraufführung) auf der Bühne, danach mußte er einige Vorstellungen aussetzen, um am Ende aber doch wieder fit zu sein. Lemmings, den ich am 11. April hörte, hat zweifellos das robustere Organ. Aber er hat auch mehr Schwierigkeiten, weil er sich die Höhenausflüge immer wieder forcierend erzwingen will. Das mag für den ungehobelten Wilden passen, nimmt der Figur aber auch eine Dimension. Die bekommt man von Busert geliefert, dessen im Prinzip gar nicht so substanzreicher Tenor der Figur mittels guter Technik und musikalischer Einfühlung in seinem manchmal fast durchscheinend wirkenden Ton einen Anflug von Traurigkeit gibt, die sie über den simplen "Barbaren" hinaushebt.

Als urkomische Partner bei seinen Mordkomplettplänen erwiesen sich Szymon CHOJNACKI und David CORDIER; ein trink- und amüsiersüchtiges Pärchen, dem selbst jeder Pauschaltourist außerhalb der "Ballermann-Zone" wohl nur mit Grausen begegnen würde. Die Stimmkombination Baß/Counter sorgt natürlich noch für die zusätzliche Zuspitzung der Charaktere.

Komplettiert wird die Tenorriege durch Andrew SRITHERAN, dessen Wagnertenor sich mit dem König von Neapel nicht leicht tut. Aber er macht das Beste daraus, weil er die Trauer um den verloren geglaubten Sohn intensiv zu gestalten weiß. Und durch Patricio ARROYO, der den unrechtmäßigem Herzog von Mailand mit sauber geführter, etwas kleiner Stimme als eloquenten Politprofi gibt, der nicht merkt, dass ihm keiner glaubt - eine sehr heutige Figur also. Als sympathischen Gegenentwurf gibt Andreas HALLER mit profundem, nicht immer ganz intonationssicheren Baß den weisen, menschenfreundlichen Ratsherren Gonzalo.

Ganz ausgezeichnet schlagen sich die Kollektive, da wird sauber und rhythmisch präzise gesungen und gespielt, und Philippe BACH hält das Ganze via Kopfhörer und diversen Monitoren hervorragend zusammen. So macht moderne Oper Spaß, das Publikum jedenfalls feierte die Künstler ausgiebig - und in der letzten Vorstellung auch den anwesenden Komponisten, auch wenn vielleicht die wenigsten wussten, wer der Herr im Anzug eigentlich war... HK