"GÖTTERDÄMMERUNG" - 5./17. September 2010

Der Ring hat sich geschlossen. Dieser klischeebeladene, weil nach fast jedem "Ring"-Produktion erwähnte, Satz war selten wahrer als jetzt in Lübeck, denn das Schlußbild von Anthony PILAVACHIs Inszenierung läßt erwarten, daß alles wieder von vorne beginnt; wie bei einem echten Ring gibt es weder Anfang noch Ende.

Wagner kann Spaß machen, obwohl oder gerade weil der Regisseur hier mit allen denkbaren Klischees spielt und zum Teil den Text wortwörtlich inszeniert. Leider war das Premierenpublikum wenig zum Lachen aufgelegt -am Ende aber ebenso begeistert wie das der zweiten Vorstellung.

Ein großer Vorteil dieser Produktion ist ihre Kurzweiligkeit. Im den Sängern jederzeit die Möglichkeit zum Spiel gebenden Bühnenbildern von Mömme RÖHRBEIN spielen sich fünfeinhalb Stunden ab, von denen keine Sekunde jemals auch nur den Gedanken an Langeweile aufkommen läßt. Pilavachi folgt seinem in den vorherigen drei Teilen erworbenen Ruf, ein genauer, manchmal auch schonungsloser, Beobachter zu sein. Die Kostüme von Angelika RIECK passen gut in die Produktion, auch wenn sie zumindest an einer Stelle diskutabel sind.

Eine schier unglaubliche Entwicklung hat in den vergangenen zwei Jahren Rebecca TEEM (Brünhilde) gemacht. Bombensicher, niemals schrill und wortdeutlich trägt sie den szenisch ganz zurückgenommenen Schlußgesang mühelos alleine. Auch ihre darstellerische Präsenz ist gewachsen. Die gesamte Entwicklung von der unbekümmerten Teenager-Walküre über die Jungverliebte und das Hausmütterchen zu einer erwachsenen Frau, die sich entschließt, alles zu beenden, ist in jeder Sekunde nachvollziehbar.

Richard DECKER begann beide Abende mit gewissen Anlaufschwierigkeiten, konnte sich dann aber insbesondere am zweiten immens steigern. Speziell im dritten Aufzug erlebte man Momente, die die anfänglichen Schwächen vollkommen vergessen machten. Der Mann der Walkürenträume bleibt Spielball, der gegensätzlichen Mächte. Die Wandlung vom hehren zum Pantoffelhelden, der u. a. stolz die selbstfabrizierte Hochzeitstorte präsentiert und dabei Schürze trägt, machte dem Tenor augenscheinlich Spaß.

Gary JANKOWSKI wußte bereits in der Lübecker "Rheingold"-Premiere zu beeindrucken. Allerdings mußte man schon einen Blick ins aktuelle Programmheft werfen, um sich davon zu überzeugen, daß es sich tatsächlich um den gleichen Sänger handelt. Sein Hagen ist nicht schlicht böse und verschlagen, sondern auch heimtückisch freundlich, ausgesprochen verächtlich und schamlos elegant.

Der Sänger verläßt sich nicht allein auf seinen beeindruckenden Baß mit der enormen Durchschlagskraft, sondern präsentiert immer neue Nuancen zur stimmlichen Gestaltung der Figur. Es ist für den Zuschauer leicht nachzuvollziehen, wie es ihm gelungen ist seine Halbgeschwister um den Finger zu wickeln und den Hofstaat auf seine Seite zu ziehen.

Sein Vater Alberich wird auch in diesem Teil von Anthony YANG verkörpert. Interessanterweise wirkt er bei Wagner mehr zuhause als zuletzt im italienischen Fach. Hier punktet er mit Wortdeutlichkeit und kraftvollem Gesang.

Gunter wird vom Regisseur nicht nur als in sexueller Hinsicht recht variabel, sondern (stückkonform) auch als psychologisch höchst gefährdeter, unglaublicher Feigling gezeigt. Bei einem weniger fähigen Darsteller könnte die Figur rasch ins Peinliche abgleiten. Gerard QUINN allerdings gelang es, alle geforderten Facetten der Figur so zu zeichnen, daß es nie übertrieben wirkte und jegliche Peinlichkeit vermieden wurde.

Für seine Stimme kommt diese Partie zum richtigen Moment wie man zwischen beiden Vorstellungen auch im "Rheingold" hören konnte. Die Orchesterwogen aus dem Graben - kein Problem, die trickreichen Textwindungen - mühelos bewältigt. All jene Pluspunkte aus dem italienischen Fach waren auch hier zu hören. Eben ein runder, musikalisch farbenreicher Vortrag. Ein Höhepunkt an beiden Abenden war sicherlich der Treueid zwischen Gunter und Siegfried.

Nicht nur durch die szenische Aufwertung, sondern auch durch die Besetzung mit Ausrine STUNDYTE wird aus Gutrune eine weitere Hauptrolle. Da steht keine Randfigur auf der Bühne, sondern eine lebendige Frau. Nachdem sie zuletzt bewiesen hatte, daß sie Verdi und Verismo großartig zu singen vermag, setzt sie ihre Vielseitigkeit jetzt bei Wagner ein.

Ebenfalls nur mit Superlativen kann man Veronika WALDNER (Waltraute) überschütten. Wenn sie ihren Monolog singt, sieht man die geschilderten Ereignisse sofort vor dem inneren Auge. Und im Spiel ist sie einfach großartig, wenn sie mit einem einzigen Blick sich zu fragen scheint: "Wie konnte aus meiner Schwester, der toughen Walküre, dieses Hausmütterchen werden?"

Als Erste Norn hatte sie zusammen mit Roswitha C. MÜLLER und Anne ELLERSIEK bereits den Abend eröffnet, und selten dürfte die Nornenszene derartig elektrisierend gewesen sein.

Die Rheintöchter betreiben inzwischen eine Bar und führen dabei einen - vorsichtig ausgedrückt - wirklich flatterhaften Lebenswandel. Sonja FREITAG (Woglinde), Roswitha C. MÜLLER (Wellgunde) und Julie-Marie SUNDAL (Floßhilde) gelang der Spagat zwischen unterhaltsamem Spiel und mustergültigem Gesang ohne Schwierigkeiten.

CHOR und EXTRRACHOR (Leitung: Joseph FEIGL) standen dem Solistenensemble an Niveau in Spiel und Gesang in nichts nach.

Leider war wiederum die Leistung aus dem Graben der Wermutstropfen einer ansonsten fast perfekten Produktion. Das PHILHARMONISCHE ORCHESTER leistete sich immer wieder Verspieler, und Roman BROGLI-SACHER setzt weiterhin auf zuviel Lautstärke sowie häufig langsame Tempi; gegen letztere wäre grundsätzlich nichts einzuwenden, aber erstens müßte dann mehr Spannung entfaltet werden, und zweitens ist es gelegentlich alles andere als sängerfreundlich.

Wie der gesamte Lübecker "Ring" ist auch diese "Götterdämmerung" etwas zum Immerwiederanschauen und Garnichtgenugbekommen. Da kommt das neuste Projekt doch gerade recht. Das Theater Lübeck bringt den Vierteiler noch in diesem Jahr als DVD heraus. Kaufen!
AHS & MK