"CARMEN" (Premiere) - 30. April 2011

Nur ca. acht Jahre nach der letzten nicht unbedingt spannenden "Carmen"-Produktion, entschloß sich das Theater Lübeck zu einer Neuinszenierung, die Alberto TRIOLA anvertraut wurde. Er fokussiert sich auf Don José, der während der Ouvertüre Zeitung lesend am Küchentisch in einer spießigen Einrichtung sitzt, während seine Frau Micaela den Kindern Schulbrote schmiert und sie in die Schule schickt. Ob die eigentliche Handlung dann eine Phantasie oder eine Rückblende ist, erschließt sich mir nicht so ganz. Jedenfalls endet die Oper damit, daß er am Ende wieder in der Küche ist und Micaela erstaunt ihren am Boden kauernden Mann findet.

Alles in allem vermag die Inszenierung durchaus zu gefallen, wenngleich Triola vielleicht zu viel will, und ich nicht alles verstanden habe. Einige Ideen sind wirklich nicht schlecht, werden aber nur kurz angedeutet und dann nicht wieder aufgegriffen, wie z.B. die Armut der Bevölkerung (Micaela wird bei ihrem ersten Auftritt von Bettlern fast bedrängt), der militärische Drill im Kindesalter oder die magischen Kräfte der Zigeuner (Carmen hypnotisiert die Soldaten bei ihrer Flucht). Ich bin zwar kein großer Fan von Verdopplungen von Personen auf der Bühne, aber hier machte es tatsächlich Sinn, als im Schlußbild, das in der Umkleide der Stierkämpfer spielt, plötzlich fünf Carmens auftauchten und José sich in einen regelrechten Wahn hineinsteigerte und ständig irgendeine falsche "Carmen" ansang.

Das stimmungsvolle Bühnenbild stammt von Tiziano SANTI und die kleidsamen Kostüme von Manuel PEDRETTI. Mir war allerdings nicht so ganz klar, wann das alles nun spielen soll. Die Küche sah eher nach den siebziger oder achtziger Jahren aus, während die eigentliche Handlung doch eher früher zu spielen scheint.

Anna MALAVASI sang eine temperamentvolle Carmen. Im Großen und Ganzen lieferte sie mit ihrem in der Tiefe gurgelnden Mezzo eine gute Leistung ab, allerdings war sie mir in den derben Passagen eine Spur zu derb. Außerdem war ihr Vortrag gelegentlich zu absehbar und nicht unnahbar genug. Die Rolle lebt ja von der Unberechenbarkeit und dem Hin und Her mit ihrem potentiellen Liebhaber. Dennoch war der Eindruck überwiegend positiv.

Der junge Giancarlo MONSALVE gab ebenso wie Malavasi sein Hausdebüt. Sein José war das mit Abstand Beste, was ich in der Rolle bislang live gehört habe. Er macht die Entwicklung vom zurückhaltenden Sergeanten zum vom Wahn zerfressenen verschmähten Liebhaber ungemein plastisch deutlich. Seine Blumenarie (mit Piano!) war unglaublich packend und verdammt clever aufgebaut. Dazu zeigte er sich als sehr guter Darsteller. Einer großen Karriere im dramatischen Spinto-Fach dürfte nichts im Weg stehen! Dort herrscht ja eh eine große Flaute...

Anne ELLERSIEK machte als Micaela eine gute Figur. Während sie vor anderen Personen die starke Frau zeigte bzw. vor José zu zeigen versuchte, ließ sie in ihrer Arie ihre Fassade fallen. Man darf gespannt sein, was von ihr noch so alles kommt!

Die Qualität eines Escamillos bemisst sich eigentlich nur daran, wie ein Sänger an dieser undankbaren Partie scheitert. Antonio YANG versuchte noch nicht einmal, irgendwas aus der Rolle herauszuholen. Er sang irgendwie alles gleich.

Unter den Nebenrollen ragten insbesondere Wioletta HEBROWSKA (Zweitbesetzung für die Carmen) als Mercedes und Patrick BUSERT als auf Captain Jack Sparrow getrimmter Remendado heraus, die aus ihren kleinen Rollen verdammt viel machten und so ihre Bühnen-"Partner" gnadenlos gegen die Wand sangen. So nervte Andrea STADEL (Frasquita) zwar nicht ganz so schlimm wie sonst, aber immer noch zu viel, und Daniel SZEILI (Dancairo) blieb arg blaß.

Durchaus hörenswert war der Morales von Hyeon-Jun YEOUM. Philip MEIERHÖFER sang einen soliden Zuniga. Mark MCCONNELL ergänzte als Lillas Pastia.

Nicht unerwähnt bleiben sollte FLUFFY, der kleine, süße, weiße Theaterhund, der zwar sichtlich nervös war, aber dennoch während der Ouvertüre allen die Show stahl.

Insgesamt gilt trotz durchweg guter Gesangsleistungen festzustellen, daß das Französisch bei kaum jemandem wirklich französisch klang.

Wenn Roman BROGLI-SACHER am Pult der LÜBECKER PHILHARMONIKER seine Tempi auch dirigieren könnte, hätte es ein sehr runder Abend werden können. Zwar schaffte er es tatsächlich, das Orchester zusammenzuhalten, jedoch waren die langsamen Passagen erneut zu öde und die schnellen zu wenig feurig. Dazu kam, daß die lauten Passagen einfach nur laut rumdröhnten, und das Blech mal wieder sehr derb daherkam.

Der CHOR samt EXTRACHOR unter Josef FEIGL konnte sich nach der einen katastrophalen "Mefistofele"-Aufführung wieder rehabilitieren und lieferte eine solide Leistung ab. Der KINDER- und JUGENDCHOR VOCALINO unter Gudrun SCHRÖDER sang ohne Fehl und Tadel. WFS