"THAÏS" - 17. Mai 2013 (Premiere)

Typisch, Mann, ist man am Ende dieser Massenet-Oper versucht zu sagen. Letztendlich schreit das Werk förmlich nach diesem Gedanken. Athanaël, ein Mönch, macht sich auf nach Alexandria, um die Kurtisane Thaïs von ihrem sündigen Lebenswandel abzubringen und sie zu dem aus seiner Sicht einzig wahren Glauben zu bekehren. Die Erkenntnis, daß er eigentlich in Thaïs verliebt ist, kommt Athanaël erst, als sie sich im Kloster ihrem neuen Glauben hingibt und just, bevor sie in religiöser Verzückung stirbt - kurz: zu spät.

Marc ADAM, als Regisseur in Lübeck immer wieder gern gesehen, inszenierte die Geschichte wie ein Kammerspiel, stark auf die beiden Protagonisten fokussiert, und läßt alle weiteren Personen zu Randfiguren, Teil eines kommentierenden Kollektivs werden. Bis auf die letzten beiden, inszenatorisch wirklich starken Szenen glichen die einzelnen Bilder der Oper eher Momentaufnahmen einer Erzählung als einer in sich geschlossenen Geschichte.

Letzteres ist ein wenig schade, denn immer wieder schloß sich am Szenen-Ende der Vorhang, und die verbleibenden Klänge, die zum Teil noch recht viel zu erzählen hätten, verpuffen im Halbdunkel des Zuschauerraums. Insgesamt gelang hier aber eine ausgemacht gute szenische Umsetzung des Werks.

Wirklich gut gelöst ist die Frage der rasch wechselnden Handlungsorte. Roy SPAHN hat hier ein relativ spartanisches Bühnenbild geschaffen, das mit seinen flexiblen Elementen ohne großen Aufwand, aber immer wieder effektvoll neu zusammenfügen läßt. Die so entstehenden Bilder haben z. T. beinahe etwas Poetisches. Die Lichtregie (Falk HAMPEL) mutete am Premierenabend teilweise etwas seltsam an. Streckenweise ging einfach das Licht auf der Bühne aus und wieder an. War dies so gewollt, oder funktionierte einfach etwas nicht?

Das Kostüm für die geläuterte Thaïs und auch das für ihren ersten Auftritt waren durchaus liebevoll mit Blick für Details gemacht. Die anderen Figuren hatten da weniger Glück (Kostüme: Pierre ALBERT). Zu plakativ, zu übertrieben wirkte die Kleidung der alexandrinischen Spaßgesellschaft. Das Hemd, das Nicias Athanaël überläßt, wirkte gar wie einem der frühen Technicolor-Piratenfilme entnommen (Farbe, Farbe, Farbe…). Die Choreographie von Pascale CHEVROTON wirkte an vielen Stellen beliebig.

Die beiden Protagonisten gelang es scheinbar spielend, die Brücke zwischen musikalischer und szenischer Interpretation zu schlagen.

Lea-ann DUNBAR in der Titelpartie vermochte die Zerrissenheit ihrer Figur gut zu vermitteln. Ihr lag die leichtlebige, unbekümmerte Art der Kurtisane ebenso wie die spätere religiöse Abgeklärtheit. Noch weit mehr als bisher in anderen Rollen scheint diese Partie für den Sopran gemacht zu sein. Die Sängerin zeigte hier etwas von der abgeklärten Attitüde der Diven der Vergangenheit, was ihr auch stimmlich sehr zugute kam. Die gesangliche Umsetzung war vom ersten Moment rund und ausgesprochen klangschön.

Ihr zur Seite gab Gerard QUINN einen Athanaël, der anfangs so fest vom seinem Glauben überzeugt, wie am Ende über den eigenen Irrtum verzweifelt ist. Die im italienischen Repertoire so schön klingende Stimme des Baritons paßt ebenso perfekt ins französische Fach. Neben der virtuosen Interpretation im Gesang blieb auch Raum für die darstellerische Auslegung, für die kleinen Momente und Ausbrüche, die zeigten, wie sehr Athanaël doch schon vor der letzten Szene in Thaïs verliebt ist, ohne es selbst zu bemerken. Ein rundum gelungenes Rollenporträt.

Ein wenig vermißte man noch eine gewisse blinde Vertrautheit, eine intensivere Innigkeit zwischen den beiden Akteuren, was sich aber in den kommenden Vorstellungen sicher einstellen wird.

Gardar Thór CORTES' Nicias mochte nicht so ganz zu den vollmundigen Versprechungen auf der Website des Tenors passen. Immerhin wurde aber eine solide, ausbaufähige Abendleistung geboten. Grandios waren Anne ELLERSIEK als Crobyle und Wioletta HEBROWSKA als Myrtale, die sich nicht nur problemlos in ihre überspitzt angelegten Rollen einfanden und diese mit Bravour spielten, sondern auch gesanglich zu den Höhepunkten des Abends gehörten. Dieser überaus positive Eindruck steigerte sich bei Wioletta Hebrowskas Interpretation der Äbtissin Albine sogar noch einmal.

Von Ginalucca BURATTO als Palémon hätte man sich ein wenig mehr stimmliche Beständigkeit gewünscht, was da zeitweise zu hören war klang aber nach interessantem Material. Steinunn SKJENSTAD (La Charmeuse) klang in den Höhen leider gar zu schrill. Hier fehlt es noch ein wenig an Substanz. Johan Hyunbong CHOI hätte man gern in einer größeren Rolle als der des Dieners Nicias' gehört.

Der CHOR des Lübecker Theaters kann was. Das ist keine Überraschung, sondern ohrenscheinlich das Ergebnis der jahrelangen Arbeit von Joseph FEIGL. Auch diesmal paßte alles. Der Zusammenklang (auch mit dem EXTRA-CHOR) war ausgesprochen homogen, und insbesondere der Mönchchor wußte in seinen Szenen ob des stimmlichen Potentials zu überzeugen.

Schade war, daß die musikalische Begleitung des Abends durch das PHILHARMONISCHE ORCHESTER weder der Grundstimmung des Stücks, noch der Inszenierung folgte. Zu laut, oft viel zu mächtig ließ Daniel INBAL die Musiker aufspielen. Das Gefühl für die lyrischen Momente schien dem Dirigenten leider abzugehen. Hier blieb keine Zeit für schön gesungene Bögen oder das Nachklingen eines Moments. Das Geschehen auf der Bühne wurde ein ums andere Mal vom Klanggetöse schier erdrückt. Weniger wäre hier mehr gewesen. Das Orchester brauchte etwas Zeit, um an diesem Abend warm zu werden, und klang nach der Pause wesentlich genauer als davor.

Diese Produktion, die in der neuen Spielzeit wiederaufgenommen wird, ist alles in allem uneingeschränkt empfehlenswert, wenn man (anders als meine Begleitung) keine Probleme mit der Geschichte an sich hat. Musikalisch ist mir diese Oper von allen bisher gehörten Massenet-Werken mit am nächsten. Vielleicht könnte jemand in Lübeck ja demnächst noch "Thérèse" auf den Spielplan setzen… AHS