"DON CARLOS" - 8. November 2013

Es war das erste Operndirigat des neuen Generalmusikdirektors Ryusuke NUMAJIRI in Lübeck seit Amtsantritt. Irritierenderweise klang es teilweise schlecht geprobt, es kam ständig zum Auseinanderdriften von Graben und Bühne, das PHILHARMONISCHE ORCHESTER war immer laut, unter mezzoforte schien es keine dynamische Abstufung mehr zu geben, und die Wahl der Tempi erschien wenig durchdacht, zumal diese unvermittelt angezogen oder verlangsamt wurden, ohne daß sich der Grund erschloß. Daß das Orchester dabei weitgehend fehlerfrei blieb, ist immerhin positiv zu vermerken.

Es war zu begrüßen, daß der vieraktigen italienischen Version das Duett Philipp/Carlos an Posas Leiche hinzugefügt wurde. Unverzeihlich ist allerdings der musikalische Eingriff am Ende des Schleierliedes, der offenbar erfolgte, um einen höchst sinnlosen szenischen Gag einarbeiten zu können (der übrigens auch möglich gewesen wäre, wenn man die Arie normal zuende gespielt hätte).

Sandra LEUPOLD sitzt, wie in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Regisseuren, dem Irrtum auf, daß man den historischen psychisch kranken Don Carlos auf die Bühne stellen soll. Nur hat das weder bei Schiller noch bei Verdi jemals funktioniert. Bei Leupold wird das Ganze noch darauf erweitert, daß sowohl Carlos als auch Posa und Philipp offenbar an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Worauf die jeweils gründet, wird nicht weiter erklärt.

Das Einheitsbühnenbild (Stefan HEINRICHS) bestand aus drei die Bühne umschließenden grauen Wänden ohne Türen. In der Mitte befand sich ein Viereck, welches von Gittern umfaßt war. An der Vorder- und Hinterseite des Vierecks gibt es je einen Graben, welcher an den vier Ecken zu schmalen Treppen führt, über die sämtliche Sänger, Chor und Statisterie von unten auf- und abtreten müssen, was bei einer sehr personenstarken Oper nicht gerade förderlich ist. Kollege WFS fühlte sich nicht ganz zu Unrecht an eine Wassertretanlage à la Kneipp erinnert. Die Kostüme (Jessica ROCKSTROH) sind mit einer Ausnahme auffallend unkleidsam. Warum außer Philipp alle anderen Hauptrollen rothaarig sind, gibt Rätsel auf.

Carlos ist ein psychisches Wrack, welches ständig irgendwo zusammengekrümmt sitzt oder liegt, wenn er nicht gerade eine manische Phase hat. Dann klettert er auf eines der Gitter, um darauf zu balancieren. Posa leidet unter Migräne und reißt sich, wenn er erregt ist, die rote Perrücke vom Kopf oder zündet sich eine Zigarette an. Warum der Marquis meint, daß Psycho-Carlos in Flandern, wo er selbst offenbar sein PTSB erworben hat, gut aufgehoben sein könnte, weiß er vermutlich auch nicht. Ständig wuseln Chor und Statisterie im Hintergrund herum, auch bei Szenen, die nun wirklich keine Zeugen haben dürften. Im Garten der Königin muß Eboli das Viereck mehrfach umkreisen; ob ihre Gage wohl von der Rundenzahl abhängt? Gleichzeitig reißen zwei Schergen im Hintergrund schwarze Klebestreifen von einer Rolle und befestigen sie an der Rückwand, was höllischen Lärm verursacht und von der Musik ablenkt, dafür im weiteren Verlauf auch sinnlos ist.

Im Autodafé werden die Ketzer nackt ausgezogen, mit Farbe bemalt und dann in den brennenden vorderen Graben gestoßen. Carlos baut das etwa dreißig Zentimeter lange Schild, das wohl die Fahne der flanderschen Deputierten darstellen soll, auseinander und bedroht mit dem etwa halb so langen Griff seinen Vater. Immerhin nimmt dieser davon Abstand, den Griff zu benutzen, um Posa zum Herzog zu schlagen. Während Philipps Arie läuft Eboli weiter planlos über die Bühne und zieht vorsorglich schon einmal ihren Schlüpfer unter dem Kleid aus. Natürlich stellt sich der Großinquisitor dann prompt auf die herumliegende Unterhose. Wenn Elisabeth in Ohnmacht fällt, geht sie noch brav zur Treppe des "Kneippganges", damit sie im Quartett wie die anderen drei auf einer der Stufen sitzen kann, so daß nur die Köpfe und Schultern herausschauen. Nach Posas Tod zerren Philipp und Carlos an Posas Leiche herum, bis das unfreiwillig komisch wird. Am Schluß robben Philipp und der Großinquisitor auf die Bühne. Das Warum ist zu diesem Zeitpunkt auch schon völlig egal.

Ich habe seit langem keinen solch einhelligen und alles andere als unberechtigten Buh-Orkan für ein Produktionsteam gehört wie am Ende dieser Premiere.

Die Qualität der Übertitel kann wahrscheinlich außerhalb des Parketts kaum jemand beurteilen, da für die Rangplätze direkt vor der Übertitelungsanlage mehrere große Scheinwerfer hingen (Licht: Falk HAMPEL). Zahllose Zuschauer wechselten mitten in der Vorstellung ihre Plätze, um einen Blick darauf werfen zu können, was wiederum erhebliche Unruhe verursachte.

Völlig in der Regie ging Yoonki BAEK als Carlos auf. Genau das stellte sich jedoch als Problem dar. Das Singen in gekümmten Körperhaltungen trägt nicht zu guter stimmlicher Leistung bei, und diverse halsige oder angestrengte Töne trübten den Eindruck noch mehr. Die Stimme sprach an diesem Abend hauptsächlich in der Tiefe an, wenn der Sänger tatsächlich einmal gerade stehen durfte, dann klang sie sogar erfreulich, in den anderen Lagen wurde sie dann eng und wenig attraktiv. Und das regiebedingte ständige Gezappel schien nicht nur den Zuschauer, sondern auch den Tenor vom Gesang abzulenken.

Sanja ANASTASIA bemühte sich um die Eboli, doch zu einer guten Leistung fehlte hier noch einiges. Den Koloraturen des Schleierliedes blieb sie einiges schuldig, und wenn sich meine Gedanken bei "O don fatale" damit beschäftigten, daß es vielleicht besser wäre, vor dem Gang ins Kloster den Slip wieder anzuziehen, spricht das nicht für eine fesselnde Darstellung. Daß man ihr ein Auge mittels eines häßlichen Heftpflasters verklebt hatte und sie am Ende in einem sehr ungünstig geschnittenen Unterkleid herumlaufen mußte, war nicht ihre Schuld, trug aber auch nicht zur Glaubwürdigkeit der Figur bei.

Daß der Abend kein kompetter Reinfall wurde, war der weiteren erstklassigen Besetzung geschuldet.

Shavleg ARMASI kam als ungewohnt jugendlicher und attraktiver Philipp auf die Bühne, mit dem einzigen wirklich kleidsamen Kostüm der Produktion ausgestattet, und zog sofort in seinen Bann. Die Stimme strahlt unglaubliche Autorität aus, besticht in jeder Lage durch ihre Qualität, und von der ersten Phrase an konnte man allein durch einen Wechsel einer Nuance jederzeit Philipps Stimmung erahnen. Zudem war die Textbehandlung absolut vorbildlich und sehr durchdacht. Warum Elisabeth sich statt ihrem Mann einem Kerl zuwenden sollte, für den man maximal Mitleid aufbringen kann, ist vollkommen unverständlich. Eine Wiederbegegnung mit dem Baß in anderen Rollen ist dringend erwünscht.

"Don Carlos" in Lübeck ist, wenn Gerard QUINN als Posa den letzten Akt auf der Bühne herumliegt. Dieses Schicksal muß Bariton nun schon in der zweiten Produktion ertragen. Doch zuvor bot er eine gloriose Leistung. Kaum hatte er die Bühne betreten und die ersten Töne gesungen, da wußte man, Verdi findet an diesem Abend doch noch statt. In jeder Sekunde präsent, mit unendlich langen Bögen in der Kavantine, starker Attacke im Duett mit Philipp und schließlich ein fürchterlich tränentreibender Tod ohne jede Übertreibung mit schöner Phrasierung und piani versehen, siegte er über den szenischen Unsinn.

Carla FILIPCIC HOLM war mit einem Outfit (Kleid, Frisur und Maske) gestraft, das wirkte, als sei Elisabeth nicht die (gleichaltrige) Stiefmutter von Carlos, sondern seine Oma. Da die Sängerin selbst eine attraktive Frau ist, stellt sich die Frage, was hiermit beabsichtigt gewesen sein mag. Gesanglich bot sie wunderbar ausgesungene Bögen mit apart timbrierter Stimme. Daß man ihr die zweite Strophe des Abschiedes von der Gräfin Aremberg gestrichen hatte, war nur zu bedauern. Warum einer so starken Elisabeth damit die Möglichkeit gestohlen wurde, Philipp zu beschämen - denn genau darum geht es in dieser zweiten Strophe - bleibt wie so vieles das Geheimnis des Leitungsteams.

Auch Taras KONOSHCHENKO war als Großinquisitor mit einem Kostüm geschlagen, was sich aus einem Unterkleid, das verdächtige Ähnlichkeit mit einer Tüllgardine aufwies, einem violetten Überwurf und einer roten Kappe zusammensetzte, wobei sich letztere farblich bissen (ist der Großinquisitor nicht in der Lage, sich zu entscheiden, ob er Kardinal oder Bischof sein will, oder hat er ob seiner Blindheit einfach morgens planlos in den Schrank gegriffen?). Dazu kamen Perrücke und Bart, die auch noch im dritten Rang laut "angeklebt" zu schreien schienen. Das neue Ensemblemitglied konnte im Duett mit dem Über-Philipp Armasi gut mithalten und verströmte viele wunderbar anzuhörende Baßtöne. Mit etwas mehr Erfahrung wird sicherlich noch das letzte Quentchen Gefährlichkeit hinzukommen.

Von Kon Seok CHOI als extrem wohlklingendem Mönch hätte man gerne mehr gehört. Da er jedoch persönlich nicht auftreten durfte, sondern irgendwo ungünstig aus dem Off tönte, war die Balance zwischen Stimme und dem überlauten Orchester nicht ausreichend gegeben. Eine andere Plazierung wäre dringend erforderlich.

Leonor AMARAL war ein sehr guter Tebaldo, Evmorfia METAXAKI mußte ihren Stimme vom Himmel-Auftritt über der Bühne hängend als Marienerscheinung absolvieren, was ihrer guten stimmlichen Leistung keinen Abbruch tat, und Jonghoon YOU konnte sich als Lerma profilieren.

Zu den Positiva sind zudem noch der CHOR und EXTRACHOR zu zählen. So stimmschön und -stark war es ein Genuß zuzuhören, zumal die Damen und Herren unter der Leitung von Joseph FEIGL sich bei den beschriebenen Wacklern zwischen Graben und Bühne immer sofort wieder fingen. Die flanderschen Deputierten (Yannick DEBUS, Karsten GEBBERT, Anton KREBBER, Simeon NACHTSHEIM, Ronaldo STEINER und Changhui TAN) habe ich selten in einer Produktion so gut gehört. MK