"CHESS" - 12. Dezember 2009

Ich möchte zwei Dinge dieser Kritik vorausschicken. Ich kenne und liebe "Chess" seit weit über zwanzig Jahren, und Tim Rice ist für mich der unbestrittene König der Musical-Librettisten. Aus letzterem Grund waren die deutschen Texte geradezu schmerzhaft, da sie jegliche Doppelbödigkeit vermissen ließen, teilweise an der tatsächlichen Bedeutung mehr als nur haarscharf vorbeigingen.

Vollkommen verwirrend war die gespielte Fassung, die offenbar eine Lüneburger Version war. Einige Songs fehlten oder fanden sich an Stellen wieder, wo sie wenig Sinn machen. Gravierender noch war das Einfügen zweier ABBA-Songs. Ja, Björn Ulvaeus und Benny Anderson waren die beiden "B" dieser Gruppe, und es handelt sich um gute Musik. Nur bedeutet dies nicht, daß diese Songs auch zu "Chess" passen, was sie nicht wirklich tun.

Regisseur Philipp KOCHHEIM hat sich Mühe gegeben, die Illusion zu erzeugen, es fänden tatsächlich gerade Schachweltmeisterschaften im Theater Lüneburg statt, indem die Kontrahenten vor Beginn der Vorstellung durch das Foyer auftreten, dort in der Pause Autogramme geben, die Presse anwesend ist, etc. Auch das Programmheft deutet lediglich auf der letzten Seite daraufhin, daß es sich um ein Theaterprogramm handelt; es zeigt Porträts von realen Schachgroßmeistern vermischt mit den handelnden Personen.

Problematisch an diesem Ansatz ist allerdings, daß das Stück aufgrund seines Themas doch an eine bestimmte Zeit gebunden ist, nämlich die des Kalten Krieges. Auch in Bühnenbild (Barbara BLOCH) und Kostümen (Sabine MEINHARDT) fühlt man sich größtenteils doch eher in die Gegenwart versetzt.

Schwerer noch als dies fällt allerdings ins Gewicht, daß es dem Regisseur nicht wirklich gelungen ist, wirklich Beziehungen zwischen den Figuren zu zeigen. Wenn Florence und Anatoly in ihrem Duett zunächst in zwei Monologen nebeneinander hersingen und erst danach einen Dialog beginnen, ist diese Szene verschenkt. Auch kommt die Liebesbeziehung doch sehr plötzlich. Was eigentlich Florence und Freddy verbindet, wird auch nicht wirklich deutlich. Die Zeichnung von Molokovs beiden uniformierten Begleitern biegt sich geradezu unter den verwendeten Klischees.

Die musikalische Seite hingegen ist als uneingeschränkt positiv anzusehen. Man kann gar nicht sagen, wem die Krone hier gebührt. Elisabeth SIKORA als Florence zeigte die richtige Mischung aus Karrierefrau und verletzlichem Wesen; daß sie sich in ihrem ersten Solo noch etwas gebremst zeigte, tat einer tollen Leistung keinen Abbruch. Anne HOTH als Svetlana stand ihr in nichts nach als jemand, die bereit ist, auch mit extremen Mitteln um ihre Ehe zu kämpfen.

Gerd ACHILLES (Anatoly) und Henrik WAGER (Freddy) waren gleichwertige Rivalen um den Meistertitel und Florence. Während Wager es immer wieder schaffte, unter der äußeren Schale des Kotzbrockens Freddy das früh verletzte Kind durchscheinen zu lassen und somit Mitleid zu wecken, gelang Achilles das genaue Gegenteil. Zu Beginn als ruhiger, sympathischer Gegenpol dargestellt, stellte er die immer stärkere Veränderung zu jemandem, dem nur noch sein Spiel wichtig ist überzeugend dar.

Alvin LE-BASS als Arbiter machte eine große Show und zeigte eine soulige Stimme, mit der er unter anderem "One night in Bangkok" ganz neue Nuancen abgewinnen konnte. Harro KORN (Molokov) hatte all die tiefen Stimme und die düstere Ausstrahlung für diese Betonkopf-Rolle. Friedrich von MANSBERG war ein präsenter Walter de Courcey, auch wenn man sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, daß der Regisseur mit dieser Rolle nun gar nichts anfangen konnte.

Die LÜNEBURGER SINFONIKER unter der Leitung von Nezih SECKIN spielten makellos und ließen zudem noch einige hübsche Ideen hören wie den an Jimi Hendricks erinnernden E-Gitarren-Einsatz in "Anthem".

Der HAUS- und EXTRA-CHOR (Leitung Deborah COOMBE) war durch das Entfallen von "Merano" nicht übermäßig gefordert, war jedoch den verbliebenen Aufgaben jederzeit gewachsen.

Es war somit ein mehr als zwiespältiger Abend. MK