"BORIS GODUNOW" - 20. Februar 2013

In München entschied man sich für die Urfassung, die rauhe, geborstene, ungeglättete, ohne Liebeshändel und Tanzmusik, pure Geschichte.

Schlimme Zeiten waren das, die Zeiten von Boris. Hunger, Gewalt, Intrigen, Krankheiten, ein Menschenleben war nicht viel wert. Alles Dinge, die Mussorgsky impliziert, immer fein, aber immer nur allzu deutlich. Calixto BIEITO steht in seinem Regiestil auch für Deutlichkeit, wenn nicht Drastik. Er verlegt, wie kann es anders sein, die Geschichte in die heutige Zeit, mit Jeans und Pullover und mit Demonstrationen gegen Putin und Co. Und ja, er setzt Spitzen, Spitzen, die seltsam ins Leere laufen. Wenn z. B. die Schankwirtin (Okka VON DER DAMERAU) ihre kleine Tochter züchtigt, ist das heute ein Fall fürs Jugendamt, damals banale Realität. Wenn die Frau dann noch einen der Häscher erschießt, ohne persönlich bedroht worden zu sein, bekommt das Ganze eine politische Dimension, die aufgesetzt wirkt. Daß Grigorij (stimmsicher Sergey SKOROKHODOV), noch während Boris stirbt, die Amme (Heike GRÖTZINGER) und die Kinder stranguliert bzw. erstickt, erschreckt niemanden, ist doch nur Politik der Tage. Als dann noch Schuiskij den Gottesnarren von einem Kind mit schallgedämpfter Pistole hinrichten läßt, hat Bieito zwar ein bißchen was von einem Skandal, aber erhellen tut das gar nichts. Warum sollte der wichtige Mann einen harmlosen Gottesnarren töten, der zwar die bittere Wahrheit spricht, aber keinerlei Einfluß hat, keine Lobby. Verpuffen tun dagegen die Szenen in denen das Volk (wieder einmal mehr überzeugend der CHOR und EXTRACHOR DER BAYERISCHEN STAATSOPER) nach Brot schreit, existentieller Hunger scheint für Bieito hier kein Thema.

Thema allerdings für Boris. Seine Todesszene, seine Trauer über sein Versagen, dem Volk geholfen zu haben, schlicht in dunklem Anzug, mit wirrem Haar und ohne Schuhe an der Rampe kniend vorgetragen, das summiert die echte Tragik. Daß die Wirkung so tief ist, verdankt man dem hervorragenden Alexander TSYMBALYUK in der Titelrolle. Seine warme kräftige Stimme und Präsenz machen Boris zu einem Menschen. Er ist kein kindermordender Tyrann, viel weniger als manche seiner Vorgänger. Er wirkt feiner, ist mit der Politik eines Schuiskij vielleicht nicht einverstanden, er hätte den Gottesnarren nicht töten lassen, weiß aber, daß er solche Männer braucht.

Und ein liebevoller, wenn auch zu weicher, Vater ist er. Bemerkt nicht, daß seine Tochter Xenia (schön gesungen von Eri NAKAMURA) saufendes It-Girl statt kleinem Täubchen ist, und daß sein Sohn Fjodor (Yulia SOKOLIK) wie ein schottisches Schulmädchen (Kostüme Ingo KRÜGLER) herumläuft, scheint ihn auch nicht zu irritieren.

Um ihn herum geht das Leben weiter. Sei es mit Vladimir MATORIN, der als Warlaam das pralle Leben der Rolle voll auskostet, tatkräftig unterstützt von Ulrich REß als Missail. Oder von Pimen, der hier weniger Mönch als resignierter Intellektueller ist, souverän von Anatoli KOTSCHERGA gestaltet. Gerhard SIEGELs Schuiskij dagegen verschenkt die Macht, die Boris ihm zugesteht. Es wirkt seltsam blaß. Der Gottesnarr ist eine Rolle, die Kevin CONNERS wie auf den Leib geschrieben ist, und er macht das Beste aus der Regie. Sehr positiv fielen auch Tareq NAZMI als viel präsenter Mitjucha und Markus EICHE als Schtschelkalow auf, der den Auftritt hatte, den man sich von Schuiskij gewünscht hätte.

Aber die Musik. Kent NAGANO durchdringt Mussorgskys Musik bis in jedes Detail, dirigiert das BAYERISCHE STAATSORCHESTER immer sängerfreundlich und fein. Vielleicht etwas zu fein. Bei ihm gibt es wenig Brüche oder gar Ausbrüche, für ihn scheint das ganze Stück bereits von Beginn an die Elegie auf Boris und Rußland zu sein, auf die es am Ende hinläuft. Betroffene Stille am Ende bevor der Applaus beginnt, so wie es sein soll. KS