"L'OPERA SERIA" - 26. März 2003

Was? Sie kennen nicht Florian Leopold Gassmann? Bis heute habe ich ihn auch nicht gekannt. Er war immerhin ein sehr erfolgreicher Komponist von etwa 20 Opern und viel anderer Musik. Als Nachfolger Glucks als Hofkapellmeister in Wien schätzte ihn Mozart für seine Kirchenmusik. Aus Böhmen stammend, komponierte Gassmann (1729-1774) Opern auf Libretti des Metastasio, lernte Gluck kennen und dessen Librettisten Calzabigi („Orfeo ed Euridice“ und „Alceste“). Gassmann fand – wie Gluck – die damaligen Sänger eher mühsam (hat sich das sehr geändert?). Schon 1720 gab der berühmte Komponist Benedetto Marcello in seinem Pamphlet „Il Teatro alla moda“ „Ratschläge“ an Sänger und Theaterdirektoren, in dem er die ganze Theaterwelt von damals verunglimpfte. Vor allem die Sänger (Kastraten) werden darin sehr hergenommen (das TCE hatte die ausgezeichnete Idee, große Auszüge im Programmheft abzudrucken). Das im 18. Jahrhundert recht weit verbreitete Genre des „Metamelodramma“ (vor allem auf Texte von Goldoni, mit Musik von Galuppi, Scarlatti, Pergolesi, Cimarosa u.v.a.) parodierte die italienische Opera seria. Gassmann schrieb „L‘Opera seria“ 1769 mit Calzabigi für das Wiener Burgtheater. Man muß oft an Mozarts „Schauspieldirektor“ oder Gazzanigas „Don Giovanni“ denken. Und natürlich auch an Strauss‘ „Capriccio“. Auch Nestroy ist nicht weit („Judith und Holofernes“ oder „Häuptling Abendwind“).

Der Impressario Fallito bereitet die Premiere der Oper „Oranzeb“ des Poeten Delirio und des Komponisten Sospiro vor (Aurangzeb, 1658-1707, 3. Sohn des Erbauers des Taj Mahal, Shah Jahan, letzter, sehr fanatischer und grausamer Mongolenkaiser Indiens). Natürlich paßt dem Primo uomo Ritornello die Arie nicht, die unausstehlichen Sängerinnen Stonatrilla, Smorfiosa und Porporina (und ihre Mütter, Befana, Caverna und Bragherona, alle von Männern gesungen!) streiten sich dauernd. Es geht drunter und drüber. Im 2. Akt wird geprobt; Fallitos und Delirios Versuche so etwas wie Regie zu führen sind mit sehr beschränktem Erfolg gekrönt. Der Tanzmeister Passagallo drängt Fallito vier Tänzer auf. Bühnenarbeiter schleppen Kulissen über die Bühne. Das Chaos steigt. Im 3. Akt wird die Oper in einer indischen Tempelallee mit Bergkulisse gespielt. Ritornello singt seine große Siegesarie, Smorfiosa, seine Gefangene, will ihn becircen und führt zu ihrer Arie einen Schleiertanz auf. Stonatrilla sieht die Konkurrentin und will sich den Tod geben – doch dazu kommt es nicht, denn das „Publikum“ beginnt zu pfeifen und der Vorhang fällt. Nachdem Fallito mit der Kassa verschwunden ist, lassen die Mütter und die Künstler im Nachspiel ihren Zorn über die Impressarii und den Opernbetrieb aus und schwören den Theaterdirektoren ewigen Haß.

Musikalisch ist das Werk nicht übermäßig anspruchsvoll. Vor allem der 3. Akt ufert etwas in Klamauk aus. Da es eine Parodie ist, werden alle Gemeinplätze der Opera seria bis zur Schmerzgrenze ausgenützt. Den Fortgang der Handlung rettet die Situationskomik der Opera buffa. Gassmann hat in der Begleitung der Sänger alle Instrumente solistisch eingesetzt, vor allem die Holzbläser. Stonatrillas Arie mit obligatem Fagott (!) ist ein Koloratur-Feuerwerk mit idiotischem Text. Porporinas Ozean Arie mit Thunfischen und Delfinen im Text wird eine Schäferarie mit obligater Oboe, da die Kastraten willkürlich die Texte auf Musik adaptierten, die sie konnten. Hinreißend! Umwerfend!

Die Produktion von 1994 stammt eigentlich aus Schwetzingen und war bereits an der Staatsoper Berlin und bei den „Innsbrucker Wochen für alte Musik“ zu sehen. Wie für den sehr erfolgreichen „Figaro“ vor zwei Jahren hat René JACOBS sich für die Inszenierung auch hier mit Jean-Louis MARTINOTY und Hans SCHAVERNOCH zusammen getan. Wie immer hat René JACOBS sein CONCERTO KÖLN völlig in der Hand. Selbst im größten Drunter und Drüber, geht alles wie am Schnürchen. Die „Probe“, von dem Cembalisten Stefano Maria DEMICHELI begleitet, voll falscher Noten und dem entsprechenden Krach, ist zum Schreien.

Martinoty hat die ganze Sache als riesigen Scherz aufgezogen, und das ist ihm bestens gelungen. Es ist unmöglich, auch nur einen Teil der zahllosen Einfälle aufzuzählen. Ritornello kommt mit seinem Seidenpintscher, der mehrmals gähnt (das Publikum röhrt), auf die Probe; primo und secondo uomo streiten sich, wer den höheren Kopfputz kriegt und messen das aus; die hypochondrische Smorfiosa hat Schmerzen am linken Bein, worauf ihre Mutter sie massiert (während die singt!), und der Tenor löst sie dann ab; Stonatrilla muß sich bei der Todesszene in der Probe mit einem Tintenfaß begnügen (weil keine Giftschale da ist), worauf Delirio ihr anrät, sich nicht mit Tinte anzuschütten; usw.

Die Bühnenbilder von SCHAVERNOCH sind blendend, Daniel OGIER zeichnete für die bildschönen Kostüme und Jean KALMAN für die passende Beleuchtung. Das Chaos der Hinterbühne in den beiden ersten Akten (mit Aussicht auf den Zuschauerraum, der das Théâtre des Champs Elysées darstellt) wird durch zahlreiche Utensilien bereichert. Die Tempelstraße im 3. Akt ist sehr gut imitiert, alles Pappendeckel, mit einer eher dem Matterhorn als dem Himalaya ähnlichen Bergkulisse im Hintergrund; Hindumengen und riesige Elefanten aus Pappe werden aus den Kulissen gezogen, die vier Fahnenträger ziehen mehrmals über die Bühne, einer fällt natürlich hin, der andere hält die Fahne so, daß das Gesicht des Tenors verdeckt wird. Totales Chaos, bis das strategisch im Zuschauerraum verteilte „Publikum“ das Ende der Oper herbeipfeift. Jedenfalls ist es das ausgefallenste, verrückteste und amüsanteste Spektakel seit vielen Jahren.

Alle Sänger waren absolut perfekt. Allen voran der primo uomo Ritornello, dem Mario ZEFFIRI seinen gepflegten und angenehmen Tenor lieh, hinreißend in seiner großen Szene als Mongolengeneral. Er spielt den eitlen, aber ungebildeten Star-Tenor (natürlich mit Seidentüchlein) mit seinem Seidenpintscher absolut umwerfend. Janet WILLIAMS als secondo uomo Porporina spielte den farbigen General Grenu mit Schwung und sehr viel Temperament, stimmlich perfekt, vor allem wenn sie die Wellen, Thunfische usw. in der Ozeanarie imitierte. Alexandrina PENDATCHANSKA hat die richtige Stimme für die kapriziöse unausstehliche Stonatrilla, einschließlich Zornausbrüchen und schmachtender Arie.

Die entzückende Miah PERSSON als hypochondrische Smorfiosa fiel passend in Ohnmacht und absolvierte die nötigen Kapricen, und ihre schöne Stimme war perfekt für die Sklavenarie des 3. Akts, wo sie außerdem einen sehenswerten Schleiertanz aufführte. Paolo SPAGNOLI gab dem Fallito die nötige Geriebenheit und lieh seinen warmen Bariton der Rolle des depressiven Impressario. Jeremy OVENDEN zeigte seinen schönen Tenor als eingebildeter und verrückter Komponist Sospiro, und Klaus HÄGER als ebenso eingebildeter, aber mehr realistischer Poet Delirio schusselte dauernd auf der Bühne herum.

Riccardo NOVARO war ein intriganter Tanzmeister Passagallo, der Fallito seine zusammengewürfelte Tanztruppe (eine Tänzerin ist sehr klein, die andere sehr groß) andreht. Obwohl sie nur ganz am Schluß singen, sind die drei dauernd strickenden „Mütter“ immer auf der Bühne und tragen zum allgemeinen Gelächter bei. Umwerfend Dominique VISSE als Befana mit winziger Brille, der an einem Fünf-Meter-Schal strickte; als Stonatrillas Mutter Caverna, röhrte Stephen WALLACE bisweilen lachend mitten in die Arie der Konkurrentin Smorfiosa; schließlich der hünenhafte Curtis RAYAM als die pechschwarze Mama Bragherona der zierlichen Janet Williams.

Das Publikum lachte aus vollem Hals und genoß den prachtvollen Abend. Zahlreiche Vorhänge. Ein Triumph! wig.