Suzanne Giraud – Olivier Py: „LE VASE DE PARFUM“ (UA)

Die französische Komponistin Suzanne Giraud (geb. 1958) ist Schülerin von Marius Constant, Claude Ballif, Hugues Dufour und Tristan Murail in Straßburg und Paris und besuchte die Kurse von Franco Donatoni in Siena und Brian Ferneyhough in Darmstadt. Nach einem Abstecher in die Elektronik beim IRCAM, erhielt sie ein Stipendium an die Villa Medici in Rom, wo sie Giacinto Sclesi, den Begründer der Mikrotonalität, kennen gelernt hat. Von diesem Aufenthalt stammt auch ihr Interesse für und Beschäftigung mit der Kunst der italienischen Renaissance. Dort ist sie auch mit den italienischen Madrigalisten und dem parlar cantando Monteverdis in Berührung gekommen, auf das sie sich hier direkt beruft.

Olivier Py ist eines der viel versprechenden Talente des französische Theaters. Er schreibt Theaterstücke, ist Schauspieler und Regisseur und derzeit künstlerischer Leiter des Theaters in Orléans und hat sich mit wagemutigen Inszenierungen in Paris, Lyon, Avignon, Orléans („Requiem pour Sebrenica“) und Genf bereits einen Namen gemacht. Py hat im Vorjahr auch erfolgreich Claudels „Seidenen Schuh“ inszeniert.

Diese zweite, 90 Minuten lange, Oper von Suzanne GIRAUD (ein Kompositionsauftrag des Staates!) ist eine Produktion von ANO (Angers-Nantes-Opéra) und wurde am 6. Oktober 2004 in Nantes uraufgeführt und dann auch in der Partnerstadt Angers gespielt. Nun ist diese Produktion für zwei Abende in Paris auf Tournee, bevor sie über Caen nach Lausanne geht.

Das Libretto ist von einem apokryphen koptischen „Evangelium nach Maria“ inspiriert, das erst 1945 entdeckt wurde, in dem Maria von Magdala (Maria Magdalena) als wesentliche Figur im Leben Jesu erscheint. In diesem Text erscheint Maria Magdalena nicht als die Sünderin, die Jesu Kopf und Füße wäscht, sondern als einer seiner wichtigsten Jünger, vielleicht sogar seine Frau. Ursprünglich war deshalb als Titel „Der 13. Apostel“ vorgesehen. Von dem orthodoxen Philosophen Jean-Yves Leloup in Toulouse übersetzt, kommentiert und veröffentlicht, hat dieses Evangelium das Interesse von Suzanne Giraud erweckt und sie hat nach längerem Suchen in Olivier Py einen passenden Texter gefunden.

Das ziemlich schwierige Werk steht zwischen Oratorium und Oper. Zumal der „Engel“, ein Countertenor, weitgehend wie ein „Evangelist“ als Erzähler wirkt. Bisweilen denkt man auch an Büchners Theater oder Schönbergs „Erwartung“. Die „Handlung“ ist minimal und in eine sehr poetische Sprache eingesponnen, die bisweilen recht hermetisch ist. In der Karfreitagsnacht liegt „die Sterbende“ (Martha; in weiß) in einem weißen Bett in Agonie. Ihre Schwester „la femme libre“ (die freie, unabhängige Frau, Marie; in schwarz) erzählt, beschwört, gesteht ihre Liebe zu Jesus in sehr offener Sprache: „Car je l’ai aimé avec mon corps“ (Denn ich habe ihn mit meinem Körper geliebt). Der „Mann des Jahrhundert“ konfrontiert sie in ihrem Glauben und ihrer Erwartung.

Das Karfreitags-Mysterium ist hier sehr allgemein genommen, das Sterben Marthas ist symbolisch, ebenso wie die titelgebende Parfum-Vase - die Hoffnungslosigkeit nach dem Tod Christi. Der Text ist stark von der symbolistischen und katholischen französischen Literatur beeinflußt. Kaum von Claudel und seinem triumphierenden Christentum, sondern eher von den tragischen, pessimistischen Autoren, wie Mauriac, Bernanos und Bloy. Sprachlich ist der Einfluß von Rimbaud und Maeterlinck zu spüren. Der Text ist daher bisweilen recht esoterisch, ja geschwollen und ist voll von Bibelzitaten und „guten Gefühlen“: Schmerz, Schönheit, Finsternis, Wunde, Mitleid, Hoffnungslosigkeit, lieben, glauben, geben, Abwesenheit Gottes. Diesem sehr schweren Text zu folgen ist essentiell, was aber wegen der viel zu kleinen Übertitelung sehr schwer war. Man versucht daher unweigerlich den Text zu verstehen, was die Aufmerksamkeit für die Musik und die Aktion auf der Bühne trübt. Man hat daher das Gefühl, daß Giraud und Py einfach zu viel in die 90 Minuten hinein stecken wollten. Die Anwendung der Mikrointensitäten und -intervalle der Töne übt jedoch eine starke Faszination aus.

Die oben genannten musikalischen Einflüsse sind auch unverkennbar. In der Einleitung wird anscheinend die Erschaffung der Welt beschrieben. Im Zuschauerraum verteilte Instrumentalisten (Streicher und Oboen) spielen ein auf Mikrointervallen und -intensitäten aufgebautes Ensemble, eine Art Antiphon, der das Chaos beschreibt, der von zwei Sopran-Trompeten und der Ankündigung „Das Licht hat die Finsternis durchbrochen!“ beendet wird. Die Instrumentalisten gehen ins Orchester (Streicher 4/3/2/2/1, zwei Oboen, zwei Fagotte, zwei Trompeten, großes Schlagzeug, Orgel) zurück, das in drei Stockwerken im Hintergrund der Bühne angesiedelt ist (eine Art „Engelskonzert“), während der Dirigent links vorne auf einem kleinen Podest steht. Der rezitierende Gesang der fünf Sänger ist direkt von den italienischen Madrigalisten und Monteverdi beeinflußt, mit Einflechtung von Mikrointervall-Chromatik (besonders der Engel-Erzähler).

Bisweilen finden große Ausbrüche und Ariosi oder lyrische Phrasen statt, wie das Lied des Bettlers („Oh meine Wunden, wie ich eure Farben liebe.“). Auch der sechs Mann starke Mini-Chor singt in Mikrotonalitäten. Der Schluß überrascht besonders: Maria stürzt in den Saal, rennt bis in die letzte Reihe hinauf, die Streicher und Holzbläser steigen wieder von ihren Stockwerken herab in den Saal und spielen im Raum verteilt, abwechselnd nur einen, aber jeder einen anderen Ton in verschiedenen Intensitäten, während langsam das Licht im Haus verlöscht. Das Ende der Welt?

Oliver PY hatte die Aufführung natürlich mit besonderer Sorgfalt und Liebe inszeniert. Pierre-André WEITZ war sein Komplize, der für das dreistöckige Szenarium, die paar Versatzstücke und die einfachen Kostüme zeichnete. Um der ungewöhnlichen Partitur gerecht zu werden, war das ENSEMBLE ORCHESTRAL CONTEMPORAIN unter seinem Chef Daniel KAWKA, unterstützt von den Solisten des ENSEMBEL A SEI VOCI (einstudiert von Bernard FABRE GARRUS), mit sichtlicher Begeisterung bei der Sache.

Unter den jungen, ungewöhnlich engagierten Sängern stach in erster Linie die Marie von Sandrine SUTTER hervor, die ohne Unterbrechung auf der Bühne steht und singt. Sie brachte eine ganz besondere Intensität, sowohl stimmlich, als auch darstellerisch, für die Rolle auf. Die große blonde junge Frau meisterte die halsbrecherische und sehr anstrengende Rolle mit ihrem strahlenden dramatischen Mezzosopran und ihrer außergewöhnlichen Bühnenpräsenz. Die Intensität der Schwester färbte auf die sterbende Martha von Mary SAINT-PALAIS ab. Sie spielte und sang ebenfalls sehr ausdrucksvoll. Der Countertenor Jean-Paul BONNEVALLE trug Leitern oder kletterte auf diesen herum und kommentierte das Geschehen mit Takt und großer Musikalität. Sébastien LAGRAVEs Tenor war sehr passend für den „Mann des Jahrhunderts“. Er spielte den Freigeist des Werks mit rot bemaltem Gesicht sehr zynisch, wie wenn er dem Bettler Geld zuwirft um zu singen. Stephan IMBODEN sang die menschliche Ruine mit fast zu schönem Baß und spielte erschütternd .

Ein schwieriges, anspruchsvolles Werk, das zu Besinnung und Überlegung anregt und das man wieder hören und sehen sollte. Das völlig ausverkaufte Haus feierte die Künstler mit langem, enthusiastischem Beifall. wig.

PS. Es war vermutlich ein Zufall, daß drei Opern mit religiösem oder biblischem Inhalt – davon zwei Uraufführungen! - innerhalb von drei Tagen in drei französischen Städten Premiere hatten. Die drei Werke sind zwar sehr verschieden, zu verschiedenen Zeiten geschrieben, haben aber alle einen religiösen Hintergrund. Im November wird noch eine vierte religiöse Oper, Poulencs „Dialogues des Carmélites“ in der Bastille gespielt werden. - Dies ist besonders überraschend hier in Frankreich, einem Land, wo die „Laïcité“, die Trennung von Religion und Staat seit dem fast hundertjährigen Konkordat (1905) strikt eingehalten wird und worauf sich alle Politiker berufen. Deshalb sind die Zeichen religiöser Zugehörigkeit im Allgemeinen und das islamische Kopftuch im Besonderen, ebenso wie der eventuelle Beitritt der Türkei in die EU ein großes Diskussionsthema geworden.