"CARDILLAC" - 10. & 20. Oktober 2005

Die "Neue Sachlichkeit", die Gefühle und Sentimentalität strikt ablehnte, als Gegenbewegung zur Romantik und zum Expressionismus, war in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts sehr in Mode, vor allem in der Architektur und bildenden Kunst. Hindemith war 1926 zu Zeit der Komposition des "Cardillac" mitten in dieser Periode. Die post-barocke, neo-klassische Formengebung (ein 40-Mann Orchester, Arien, Quartette, Ensembles, Passacaglia, Fuge, etc.) zeigen dies: das Vorspiel zum 1. Akt ist ein konzertierendes Fugato; der Mord am Kavalier wird von einem Trio für zwei Flöten und Oboe begleitet (das an die "Badinerie" der Bach'schen h-Moll-Suite erinnert), neutral, ohne Empfindung, kein Dialog, nur ein Schrei am Schluß; Cardillac wird durch ein Baß-Saxophon charakterisiert.

Doch hatte Hindemith es sich nicht leicht gemacht, indem das Libretto von Ferdinand Lion nach der Novelle "Das Fräulein von Scuderi" von E.T.A. Hoffmann, des Romantikers par excellence gewählt hatte. Die dramatische Geschichte des "Hephaistos von Paris", des genialen Goldschmieds Cardillac, der sich von seinen Werken nicht trennen kann, seine Käufer ermordet und schließlich unter dem Druck der Menge stirbt, ist ein richtiger Kriminalroman, mit einer derartig packenden Handlung, daß der Hörer unweigerlich mitgerissen wird.

Die Personen der Handlung, mit Ausnahme Cardillacs, haben keine Namen: der Kavalier, die Dame, die Tochter, der Offizier, der Goldhändler. Hindemith stellt hier erstmals seine obsessive Beschäftigung mit der Figur und dem - eher gefährlichen - Privileg des Künstlers, der über den Gesetzen steht, zur Schau, um acht Jahre später in "Mathis der Maler" eine viel mildere Form anzunehmen, die mit der Kepler-Oper "Die Harmonie der Welt" an seinem Lebensende seinen Höhepunkt findet. "Cardillac" ist ein Schlüsselwerk in Hindemiths Schaffen und ohne Zweifel eine der wichtigsten Opern des 20. Jahrhunderts. Daß Hindemith derzeit "im Fegefeuer ist", ist völlig unverständlich.

Fast 80 Jahre nach der Uraufführung in Dresden wurde Hindemiths "Cardillac" endlich in das Repertoire der Pariser Oper aufgenommen. Es gab zwar - seltene - konzertante Aufführungen, die aber der dramatischen Handlung nicht gerecht wurden. Aber es war wert, zu warten! Die Erstaufführung in der Bastille-Oper kann man ruhig als perfekt bezeichnen. Es ist selten, daß in einer Opernaufführung alles stimmt, Bühne und Graben, Musik, Handlung und Ausstattung, daß es wert ist hervor gehoben zu werden. Dies ist der intensiven Zusammenarbeit zwischen dem Dirigenten und dem Bühnenteam zuzuschreiben. Denn es ist nicht einfach, die wüste Geschichte glaubhaft auf die Bühne zu bringen.

Die Handlung in die Entstehungszeit der Oper zu verlegen und nicht zur Zeit Ludwig XIV. zu bringen, ist klug und sehr glaubhaft. Das Paris der zwanziger Jahre ist passend für eine Gesellschaft des neureichen Luxus und Lasters. Die nüchternen Jugendstil Bühnenbilder von Nicky RIETI im Stil eben dieser "Neuen Sachlichkeit", ebenso wie die fabelhaften Sack-Kleider von Chantal de la COSTE MESSELIÈRE der aufkommenden "Haute Couture" bilden den perfekten Rahmen für das grausige Geschehen. André ENGEL, das "enfant terrible" der französischen Regie-Szene und sein Dramaturg Dominique MULLER, konnten sich hier austoben und eine sehr persönliche, ungemein dichte und dramatische Interpretation der Handlung geben.

So wurde die traumhafte Nachtszene der Dame mit dem Flöten-Oboen-Trio, die im 2. Bild den Kavalier in einem luxuriösen Appartement mit Blick auf den Eifelturm erwartet, mit zwei flatternden Schmetterlingen belebt. Der Kavalier hebt die Eingeschlafene sachte aufs Bett, und wenn er sich mit der großen Goldkette über sie beugt, wird er von Cardillac ermordet. Die dramatisch äußerst schwierige Szene des 2. Akts, in der Cardillac den Auftrag des Königs verweigert, wurde als Albtraum Cardillacs während der großen Orchester-Passacaglia gezeigt, in dem ein Zwerg als Cardillac verkleidet vor dem König und seiner Begleitung in einer Pantomime den Auftrag ablehnt, während der schlafende Goldschmied murmelt: "Ich hätte ihn ermordet! Er hätte sterben müssen!".

Die Besetzung war dem Ereignis angepaßt. In der Titelrolle gab Alan HELD eine erschütternde Darstellung des von seinen Werken besessenen, gepeinigten Künstlers, durch die erstklassige Diktion des Sängers noch unterstrichen. Die Rolle ist stimmlich und darstellerisch sehr anspruchsvoll und Alan Held war der Herausforderung blendend gewachsen. Seine große Statur - obwohl Cardillac laut Hoffmann klein und untersetzt war - gibt ihm zusätzliche Dominanz.

Angela DENOKE stellte die zwischen naiver Kindesliebe und Passion für den Offizier schwankende Tochter mit ihrer außergewöhnlichen Stimme und Bühnenpräsenz ergreifend dar. Den Offizier spielte Christopher VENTRIS mit tenoraler Bravour und resignierter, erschütternder Verzeihung, wenn er am Ende singt "Ein Held starb. […] und ich beneide ihn."

Hannah Esther MINUTILLO sang sehr passend die Dame, die zwischen dem Flitter und der Leere ihres luxuriösen Lebens lebt. Charles WORKMAN sang die stimmlich außerordentlich exponierte, schwierige Rolle des Kavaliers mit Eleganz und schöner Stimme. Für den verschlagenen Goldhändler brachte Roland BRACHT seinen profunden Baß und die nötige Angst vor dem allmächtigen Cardillac ein.

Das ORCHESTRE DER OPÉRA war hörbar von dem selten Werk angetan und spielte mit besonderem Einsatz unter der sehr präzisen Leitung von Kent NAGANO. Peter BURIAN hatte den ausgezeichneten CHOR bestens einstudiert, der sich in den Massenszenen besonders drohend zeigte.

Es bedarf einer großen Portion Courage, ein wichtiges, in Frankreich so gut wie unbekanntes Werk eines wenig bekannten Komponisten in einer mustergültigen Aufführung zu bringen. Bravo! Eine Sternstunde! wig.