"LUCIA DI LAMMERMOOR" - 9. Oktober 2006

Die elf Jahre alte, schreckliche Inszenierung von Andrei SERBAN wird leider immer wieder gegeben. Aber mit der derzeitigen Operndirektion kann eine neue Produktion nur noch ärger werden. Dabei ist die derzeitige fast unübertrefflich an prätentiöser Aufwendigkeit und künstlerischer Leere. Nach den Bühnenbilder und Kostümen, Zylindern und Uniformen von William DUDLEY zu schließen, wurde die Handlung um etwa 1880 angesiedelt. In einem halbrunden Kasernen- oder Gefängnishof mit einer Galerie stehen Turninstrumente aller Art herum, und mehrere Putzfrauen waschen ständig den Boden auf. Für die Auftritte im 2. Akt werden zwei riesige Klappbrücken quer und schräg von besagter Galerie über die Szene gelegt. Der ganze Kram ist im 3. Akt zusammen gefallen, ein Trümmerhaufen. Der von Peter BURIAN wieder bestens einstudierte Chor, steht in der Galerie des Halbrunds, in Gehrock und Zylindern und in der Schlußszene mit aufgespannten Regenschirmen! Ein sehr passender Rahmen für ein romantische Oper!

Andrei Serban versucht in diesem Chaos eine Personenführung zu machen. Natalie DESSAY hatte sich anscheinend geweigert, die ursprünglichen Turnübungen in acht Meter Höhe auszuführen. Die Aufführung wurde wegen des Wiederauftritts von Natalie Dessay in der Titelrolle erwartet. Nach der zweiten Stimmbandoperation war das Ärgste zu fürchten. Allen Dessay-Fans zur Beruhigung: Natalie Dessay ist in Bestform, gereift, und ihre glasklare Präzision hat sie nicht eingebüßt. Die Höhe ist strahlender denn je. Ihre Wahnsinnsszene war der absolute Höhepunkt des Abends, ihr halluzinierendes Spiel ist die Perfektion selbst. Man könnte nur befürchten, daß sie zu viel singt, denn zehn Mal Lucia in weniger als fünf Wochen ist stimmlich, emotionell und physisch ungemein anstrengend.

Neben einer derartigen Leistung ist es für die anderen Künstler schwer, sich zu behaupten. Denn Matthew POLENZANI ist ein großartiger Tenor, der mit kräftiger Stimme und feiner Phrasierung das Liebesduett mit Lucia singt. Seine Darbietung in der Friedhofsszene "Tombe degli avi miei" auf der zusammengebrochenen Kletterwand in gut sechs Meter Höhe - und vor allem mit der Schlußszene "Tu che a Dio spiegasti l'ali" erntenten ihm einen ganz großen persönlichen Erfolg.

Ludovic TÉZIER spielte seinen Feind, den brutalen, herrschsüchtigen Bruder Enrico Ashton. Mit seinem prachtvollen Bariton sang er den schwarzen Bösewicht perfekt. Den armen Arturo Bucklaw, den Lucia in der Hochzeitsnacht ermordet, sang Salvatore CARDELLA stimmfest. Kwangchul YOUN sang Raimondo salbungsvoll mit profundem Baß. Marie-Thérèse KELLER war wie bereits von Jahren Alisa, Christian JEAN hat ebenfalls die Rolle des miesen Komplizen Normanno seit Beginn gepachtet.

Das ORCHESTER DER PARISER OPER genoß hörbar, von Evelino PIDÒ mit gewohnter Fürsorge und Umsicht geleitet zu werden. Pidò folgt ständig allen Sängern und gibt jedem seinen Einsatz präzise. Das bestechende Resultat ist eine seltene Einheit zwischen Bühne und Graben. Das Sextett war einfach perfekt. Überraschend war die Verwendung einer Glasharmonika statt der Harfe (von Sascha RECKERT virtuos gespielt) in der Wahnsinnsszene.

Das Haus tobte! Ein großartiger Abend, das Haus tobte; wenn nur nicht die grauslichen Kulissen und Kostüme wären! wig.