"CANDIDE" - 21. Dezember 2006

Es ist nicht ganz klar, wie man dieses charmante, aber auch zynische Werk bezeichnen kann. Leonard Bernstein fand den Titel Oper prätentiös und nannte es "Comical Operetta". Diese kluge, spritzige Kritik des totalitären Staates, nach Voltaires gleichnamigen, zynischen Pamphlet gegen Leibnitz' Optimismus, wurde vor genau fünfzig Jahren am Broadway in New York uraufgeführt - und nach 73 Aufführungen abgesetzt, d. h. ein Flop. Denn das Met-Publikum rümpfte die Nase und kam nicht, das am Broadway fand es zu intellektuell und kam auch nicht.

Bernstein und die Initiatorin und Librettistin Lillian Hellmann hatten es sich nicht leicht gemacht: ein philosophisches Pamphlet über die "beste aller möglichen Welten" sollte eigentlich beim amerikanischen Publikum ankommen, aber kurz nach den Prozessen der McCarthy Kommission, vor die Hellmann zitiert worden war, kam die Kritik an der Staatsgewalt und gegen Krieg in allen Formen nicht unbedingt passend. Versuchte Wiederaufnahmen wurden durch den zwei Jahre späteren Kassen-Reißer "West Side Story" völlig in den Schatten gestellt. "Candide" wurde von einer ganzen Schar von Librettisten adaptiert (soweit, daß Hellmanns Name vom Programm verschwand!), ohne nachhaltigen Erfolg. Man weiß eigentlich nicht, was vom ursprünglichen "Candide" noch übrig geblieben ist. Dabei gab es 1985 eine Opernfassung für die NY City Opera und 1988 für die Scottish Opera. Diese skeptische Parabel über die Gründe des Unglücks der Menschheit hat eigentlich viel zu bieten und ist höchst aktuell. Musikalisch sind sehr gute Nummern und echte Hits in der Partitur.

Die Neufassung der Pariser Erstaufführung von Regisseur Robert CARSEN und seinem Dramaturgen Ian BURTON ist recht gelungen. Voltaire kommentiert auf Französisch höchst persönlich die Handlung in gepuderter Perücke und Rokoko Kostüm. Der gleiche Schauspieler spielt und singt aber auch die Rollen des permanenten Optimisten Pangloss und des Pessimisten Martin auf Englisch.

Robert Carsen hat Candides Erlebnisse in eine fiktive Welt verpflanzt, vom 18. Jahrhundert bis heute. Sein gewohnter Dekorateur Michael LEVINE hatte ein kluges, einfaches Bühnenbild gebaut, das das unausweichliche Schicksal, aber auch die ständige Suche des Menschen andeutet: ein riesiger, die Bühne füllender Tunnel wird durch geschickte Projektionen bis zu einem Brennpunkt in weiter Ferne verlängert. Ein paar Versatzstücke und Zusätze ergaben ein sehr adaptierbares Bühnenbild.

François ROUSSILLON produzierte geschickte Video-Projektionen für die Zwischenvorhänge (so den projizierten Vorspann "VOLT-AIRE PRESENTS", das Weiße Haus, ein Dampfschiff, ein Spielkasino in Las Vegas, Marilyn Monroe, eine endlose amerikanische Straße, aus der plötzlich eine Öl-Quelle emporschießt). Dies gibt natürlich Anlaß zu zahlreichen amüsanten oder zynischen Gags. Die Kostüme von Buki SCHIFF sind passend, zwischen diskret bis reißerisch. Nicht ganz erklärlich ist ein Quintett nach dem Untergang des Dampfschiffs, wo fünf Sänger-Tänzer in Masken von Berlusconi, Blair, Bush, Chirac und Putin auf kleinen Inseln mitten im Öl tanzen.

Die ganze Produktion soll auch an der Mailänder Scala und an der English National Opera in London gezeigt werden. Kurz nach Ende der Vorstellungsserie hat Stephane Lissner, der General-Direktor der Scala das Engagement eben wegen des Quintett-Balletts der fünf Staatschefs abgesagt!

Das Ensemble Orchestral de Paris unter der Leitung von Bernsteins Ex-Assistenten John AXELROD war voll dabei und musizierte schmissig die Songs und vor allem die ausgezeichneten choreographierten Balletteinlagen (Rob ASHFORD). Der CHŒUR DU CHÂTELET unter Stephen BETTENRIDGE war bestens disponiert und sang sehr präzise und wortdeutlich.

Von den vielen Figuren sind nur drei handlungstragend: allen voran Lambert WILSON als Voltaire, Pangloss und Martin. Der berühmte Theater- und Filmstar spielte und sang perfekt zweisprachig die drei Rollen und wechselte in Sekundenschnelle das Kostüm. Seine perfekte Diktion und seine ungemeine Bühnenpräsenz gaben der Aufführung den nötigen Schwung zu einem großen Erfolg. Der Titelheld Candide war der amerikanische Tenor William BURDEN. Er fristet sein Dasein meist in einer GI Uniform als moderner Söldner. Er brachte die naive Seite der Rolle darstellerisch bestens zur Geltung und sang prächtig seine Songs.

Die daneben winzig wirkende Anna CHRISTY als seine Angebetete, Baronin Cunigonda, besitzt einen wohlgeführten lyrischen Koloratursopran und ein unglaubliches Spieltalent und wirbelt über die Bühne. Ihren Bruder Maximilian, der in verschiedenen Verkleidungen im Laufe seines sehr bewegten Lebens erscheint, war bei David Adam MOORE bestens aufgehoben. Jenny WILSON-BEST war in der kleinen Rolle der Mutter passend. Ausgezeichnet war Kim CRISWELL als Old Lady, die vom Leben sehr strapaziert wurde und trotzdem nicht den Mut verliert. Hinreißend ihre Nummer "I am quite adaptable", wo die nicht mehr ganz junge Dame schwungvoll singt und eine phantastische Tanznummer abzieht.

Als Dienstmädchen Paquette war Jeni BERN mit frischeer Stimme in den zahlreichen Stationen ihres auch sehr bewegten Lebens sehr passend. Ferlyn BRAS war als Indianer Cacambo, der Pfadfinder Candides in der Neuen Welt, treffend. John DASZAK begann die Reihe der mehrfach Beschäftigten. Sein großer Charaktertenor ist uns bekannt, und er war als Großinquisitor, Gouverneur, Spielkasinobesitzer Ragotski und Kapitän mehr als rollendeckend. In weiteren über vierzig (!) Rollen waren Philip GLENISTER, Simon BUTTERIES, Adrian BBRAND, Steven PAGE, Philipp SHEFFIELD und Thierry LAURION zu sehen. Sie taten das ausgezeichnet in so verschiedenen Funktionen wie Baron, Stewart, Inquisitor, Zollbeamter, Wiedertäufer, Band Musiker, Texaner, König, Evangelist etc. Sie müssen sich mit einem Pauschallob begnügen.

Diese Nachmittags-Aufführung für Mittelschulen wurde vom jugendlichen Publikum mit Begeisterung und enthusiastischem Beifall, besonders für die drei Hauptdarsteller, gefeiert. wig.