"LOUISE" - 9. April 2007

Charpentiers "Louise" wird im deutschsprachigen Landen leider nur selten gespielt, und das ist schade. Die Oper wird selten gespielt, obwohl bei der Wiener Erstaufführung Mahler persönlich dirigierte, der die Oper sehr schätzte, ebenso wie Richard Strauss. Die 1900 in der Opéra comique uraufgeführte Oper, untertitelt "Roman musical", ist ein interessantes Zeitdokument und in seiner Art ein Unikum des sogenannten "Naturalismus", der natürlich bisweilen etwas sentimental wird. Welcher Unterschied mit der zwei Jahre später im selben Theater uraufgeführten "Pelleas et Mélisande"! "Louise" ist wirklich eine Volks-Oper im besten Sinne des Wortes und eine Liebeserklärung an Paris. Bei der Premiere saßen die Näherinnen von Montmartre im "Paradis", dem 4. Rang des Theaters.

Oft mit dem italienischen Verismus fälschlich verglichen - denn es fehlt das veristische Pathos - hat der Komponist, der auch das Libretto schrieb, von 1890 bis zu seinem Tod 1954 am Orte seiner "Louise" gelebt, am Montmartre in Paris. Das war eine Zeit, als die Gegend nicht von zahlungskräftigen Snobs bewohnt war, sondern von den "kleinen Leuten", den Krämern, Handwerkern und Arbeitern der wachsenden Großstadt. Die im 2. und 3. Akt im Hintergrund von den Handwerkern und Straßenverkäufern gesungenen "Cris de Paris", hat Charpentier täglich am Morgen vor seinem Fenster gehört.

Charpentier wurde 1860 in Lothringen geboren und während des preußischen Krieges 1870 nach Nordfrankreich umquartiert. Er erlernte die Grundlagen der Musik in Tourcoing und wurde dann Schüler Massenets am Conservatoire in Paris. Nachdem er den "Prix de Rome" gewonnen hatte, verbrachte er zwischen 1888 und 1890 drei Jahre in Rom und saugte die musikalische Atmosphäre Italiens ein. Früh politisch links tätig, gründete er u. a. das "Conservatoire Mimi Pinson" für mittellose junge Mädchen. Er war auch Gründer und langjähriger Vorsitzender der Musiker-Gewerkschaft.

Natürlich ist der Einfluß Massenets und der französischen Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts sehr stark. Aber auch seine italienischen Jahre sind nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Während des Sommers 1888 besuchte er Bayreuth und hörte fünf Mal (!) "Parsifal" und drei Mal (!) "Meistersinger". Wagners Einfluß, vor allem in der Verwendung der Bläser, ist unverkennbar.

"Louise" wurde ein Welterfolg, der bis New York und Buenos Aires gelangte. Bis zu Charpentiers Tod 1954 wurde "Louise" über tausendmal an der Opéra comique gespielt und war bis in die sechziger Jahre noch im Repertoire. Dafür war die Folgeoper "Julien" ein völliger Umfaller. Vor einigen Jahren war ein ausgezeichnetes Gastspiel des Capitole in Toulouse mit "Louise" im Châtelet zu sehen. Doch sonst ist die einstige Erfolgsoper von den Bühnen Frankreichs verschwunden. Diese Erstaufführung an der Pariser National-Oper ist daher ein Ereignis, denn diese Wiederentdeckung des französischen Repertoires des 19. Jahrhunderts kommt nicht zu früh.

In keiner Oper wird eine Stadt so verherrlicht wie in "Louise", die mit Louises Ausruf "Paris! Paris!" endet. In diesem Sinne hat das Regie-Team von André ENGEL (mit Dominique MULLER, Dramaturgie) für eine realistische Bühnengestaltung und Personenführung optiert. Nicky RIETYs Bühnenbilder sehen aus wie Ausschneidebögen aus den fünfziger Jahre.

Die 1. Szene spielt auf den Stiegen eines äußeren freien Stiegenhaus zwischen zwei Zinshäusern. Die Wohnung von Louises Eltern im 1. und 4. Akt ist die typische Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung der Zeit, wo ein großes, fourniertes Radio auf einem Tischchen an der Wand als "gutes Stück" trohnt. Der 2. Akt spielt in einer Metrostation "Montmartre" (die es nicht gibt), mit den typischen weißen und blauen Kacheln, die nächste Szene vor dem Eingang mit der charakteristischen Schrift des beginnenden 20. Jahrhunderts "METROPOLITAIN". Der 3. Akt spielt auf den Dächern von Montmartre und ist sehr ähnlich dem Bühnenbild Rietys für die Verfolgungs-Szene in "Cardillac" vor einem Jahr. Die 2. Szene ist ein typisches Pariser Kabarett-Theater, wo Louise zur Königin der Bohème von Montmartre gekrönt wird. Die Kostüme von Chantal LA COSTE MESSELIÈRE waren der Zeit entsprechend und sehr kleidsam, vor allem Louises feuerrotes Kleid. Ausgezeichnet beleuchtet von André DIOT und gut choreographiert von Frédéric CHAUVEAUX (Kabarett-Szene), war die Aufführung ein Augenschmaus.

Musikalisch wurde die Aufführung sehr passend und liebevoll von Sylvain CAMBRELING betreut, der ein hörbar gutes Verhältnis zu Charpentiers Musik hat. Es begann bereits im Vorspiel zum 1. Akt, wo der Schwung der aufsteigenden synkopierten Figur aufhorchen ließ. Die Differenzierung der Instrumente gelang bestens und das ORCHESTRE DE L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS zeigte sich sichtlich angetan, diese Oper endlich in der Bastille zu spielen. Alessandro DI STEFANO hatte die CHÖRE bestens einstudiert, die sich vielfach teilten, und die zahllosen kleinen Rollen der Marktschreier übernommen hatten.

Die Solisten ließen sich auch nicht lumpen. In der Titelrolle brillierte Mireille DELUNSCH wie selten. Ihre nicht sehr große, schöne lyrische, ausgeglichene Stimme ist hier ideal und ihre große Arie des 3. Akts "Depuis que je me suis donné" wurde ein Triumph für die attraktive Elsässerin. Ihr Julien war mit Paul GROVES bestens besetzt. Er bringt für die Rolle des Liebhabers nicht nur den Schmelz seines wunderbar geführten Tenors, sondern er spielt auch sehr überzeugend den stürmischen Freigeist; außerdem hat er eine sehr gute Diktion.

Als Louises Mutter war Jane HENSCHEL stimmlich ausgezeichnet und spielte bestens die strenge, einzig auf die Unschuld ihrer Tochter bedachte Mama und die von Gram gequälte Mutter umwerfend tragisch. José VAN DAM brachte für Louises Vater die Einsamkeit und Tragik des kleinen Mannes sehr deutlich zum Ausdruck. Stimmlich und darstellerisch nach wie vor überragend, gab er der Figur erschütternde Tragik. Großartig! Unter den gut zwei Dutzend Nebenrollen stach Luca LOMBARDO als Noctambule und Pape des Fous hervor, nicht nur stimmlich, sondern er spielte auch ausgezeichnet. Die vielen anderen Sänger, viele aus dem Chor, waren alle passend und müssen sich mit einem Pauschallob begnügen. - Eine sehr schöne Aufführung für ein hörenswertes Werk. wig.

P.S.: Charpentiers etwas milde Ansicht des Klassenkampfes spiegelt sich in einem Gespräch im 2. Akt wieder. Philosoph: "Das Traum des Arbeiters ist, Bürger zu werden, der Wunsch des Bürgers ist, Grand Seigneur zu werden, und der Traum des Grands Seigneurs ist, Künstler zu werden". Der Maler: "Und der Traum der Künstler?" Philosoph: "Götter zu sein!"