"THAÏS" (konzertant) - 19. April 2007

Vor einigen Jahrzehnten habe ich"Thaïs" mit Leontyine Price und Michel Roux in Chicago gesehen und erinnerte mich an eine ziemlich schmalzige Oper, mit sehr unglaubwürdigem Inhalt. Nach langen Jahren das Werk von Charpentiers Lehrer wieder zu hören, war interessant, denn man hat Abstand und Erfahrung gewonnen. Sicher, Massenet hat sämtliche musikalische Bekanntschaften seiner Zeit geplündert, von der Grand Opéra über Offenbach und Wagner bis Puccini, allerdings mit einigem Talent. Denn der Komponist aus Saint Etienne war ein großer Könner, ein Meister der Melodik und der Orchestrierung, in keiner Weise von Modernität oder Avantgardismus gequält.

Viele Stellen sind schrecklich sentimental, purer Kitsch, besonders das Violin-Zwischenspiel "Méditation" des 2. Akts, ein Schmachtfetzen, der immer wieder kommt, der André Rieu alle Ehre machen würde. Das Libretto von Louis Gallet nach dem Roman von Anatole France trieft von Orientalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, mit einer größeren Dosis Mystizismus und der beginnenden Psychiatrie, die Charcot damals in seinen bahnbrechenden Studien über Hysterie bekannt gemacht hatte und von seinem Schüler Siegmund Freud weitergeführt wurden. Die hysterischen Anfälle der Thaïs im 1. und 3. Akt könnten klinische Protokolle sein und aus Freuds Schriften stammen, ebenso wie Thaïs' Bekehrung eine Studie über Manipulation ist.

"Thaïs" steht und fällt mit den zwei Hauptrollen. Renée FLEMING hat diese Paraderolle wieder ausgegraben und reist damit quer durch Europa. Ihre prachtvolle, schillernde Stimme mit den kraftvollen Ausbrüchen, dem gehauchten Legato und den subtilen Höhen ist ideal für die Rolle der teuren ägyptischen Luxus-Nutte, die sich zum strengen Christentum der Zenobiten in der thebaidischen Wüste bekehrt. Bisweilen wirkte die Amerikanerin etwas manieriert, wie beim Festgelage in der 2. Szene, wozu das Tulpen-Kleid von Christian Dior beitrug (ich fand es scheußlich, andere waren enthusiastisch). Leider ist ihre französische Diktion nicht sonderlich gut. Ihre Musikalität und souveräne Beherrschung der Nuancen in der Bekehrungsszene und der Wanderung durch die Wüste sind jedoch bestechend.

Ihr Partner als Athanaël war GERALD FINLEY. Er setzt seinen warmen Kavaliers-Bariton mit Ausdruck und Intelligenz ein. Die ungewöhnlich ausgeglichene Stimme wirkt nie routiniert oder langweilig. Die ausnehmend hohe Bariton-Rolle ist eine richtige Kraftpartie, zumal der Sänger praktisch ständig auf der Bühne steht. Finley Verstand es, dem Athanaël, der eine besonders fanatische und sture Form des frühen Christentums verkörpert, aber von der fleischlichen Lust gepeinigt wird, eine sehr glaubhafte und ausdrucksvolle Darstellung zu geben.

Der Sybarit Nicias, Athanaëls Jugendfreund, der sich in Schulden gestürzt hat, um eine Woche lang die Reize der Thaïs zu genießen, wurde von Fabrice DALIS gesungen, der für den erkrankten Barry Banks eingesprungen war und deshalb als einziger mit Noten sang. Sein sehr hoher und schmiegsamer Tenor war für die Rolle des reichen Lebemanns sehr passend. Allerdings trägt die Stimme nicht sehr. Den Abt der Zenobiten sang Nicolas COURJAL mit warmem Baß und wiederholte mehrmals die Parole: "Ne mêlons nous jamais aux gens du siècle" (Mischen wir uns nicht unter die Leute unserer Zeit!).

Unter den Nicias umgebenden Mädchen, fielen Marie DEVELLEREAU (Crobyle) und Nora SOUROUZIAN (Myrtale) mit hübschen Stimmen auf, sowie die Charmeuse von Rebecca BOTTONE, die nur Vokalisen singt. Caitlin HULCUP als Äbtin Albine und Laurent ALVARO als rauher Diener des Nicias vervollständigten die Besetzung. Die Sänger des Kammerchors ACCENTUS unter der Leitung von Laurence EQUILBEY sangen solistisch die Brüder der Mönchs-Gemeinde, die Damen die Schwestern des Klosters der Albine.

Das ORCHESTRE DE PARIS in großer Formation unter der Leitung seines Chefs Christoph ESCHENBACH, mehr bei der Romantik und der großen symphonischen Literatur zu Hause, schwelgte in Massenets sentimentaler Musik. Der Konzertmeister Philippe AÏCHE spielte die "Méditation" erträglich schmalzig. - Triumphaler Applaus für Fleming und Finley. wig.