"CYRANO DE BERGERAC" - 19. Mai 2009

Franco Alfano (1875-1954) ist nur als "Vollender" von Puccinis "Turandot" bekannt. Alfano war jedoch ein sehr vielseitiger, schwer einstufbarer Komponist - wie viele italienische Komponisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, man denke nur an Wolf-Ferrari, Zandonai oder Busoni. Natürlich vom Verismo beeinflußt hat er Zeit seines Lebens versucht, sich davon zu lösen. Doch der Neapolitaner hat nicht nur in seiner Heimatstadt bei Serrao studiert (Lehrer u. a. von Cilea, Longo und Giordano), sondern auch in Leipzig, Berlin, Moskau und Paris gelernt, also eine recht eklektische Ausbildung. Eine kurze Einführung zu Alfanos Werk ist deshalb nützlich und ist am Ende dieser Rezension zu finden.

"Cyrano de Bergerac" ist eine vereinfachte Version von Rostands Theaterstück. Der Librettist Henri CAIN hat eine dramatische Straffung des ursprünglichen Textes mit Streichung zahlreicher Nebenfiguren bewerkstelligt und die Alexandrinische Reime beibehalten. Dies ergab ein sehr literarisches und ungewöhnlich singbares Libretto. Es gibt zwei Fassungen der Oper: die originale französische und eine italienische Übersetzung. Beide Fassungen wurden von dem korsischen Tenor José Luccioni 1936 uraufgeführt, die italienische im Jänner in Rom unter Tullio Serafin und die französische im Mai in der Opéra comique in Paris.

Musikalisch ist "Cyrano" von vielen Einflüssen geprägt, in erster Linie von französischen, allerdings weniger von Debussy und Ravel - obwohl es viele Anklänge gibt - sondern eher von Massenet, Dukas und Lalo. Wie diese hat sich Alfano direkt auf die Verse, hier Rostands, gestützt. Der italienische Einfluß ist oft bei Respighi zu finden: die Musik ist sehr schillernd, bisweilen etwas bombastisch, besonders die sehr eindrucksvolle Belagerung von Arras im 3. Akt. Flöten-Läufe, Streicher glissandi und ähnliche Effekte lassen bereits die amerikanischen Postveristen, Gian-Carlo Menotti und Carlisle Floyd ahnen. Alfano kann auch nicht über seinen veristischen Schatten springen: die Ouvertüre der Oper beginnt sehr in der Art von Mascagni. Wegen der vielen Einflüsse ist diese Kompositionsart allerdings etwas zerrissen, es gibt kaum individuelle Arien. Die formale Auflösung bewirkt, daß man nur wenige musikalische Anhaltspunkte hat. Eine ausgiebige und sehr virtuose Verwendung des Chors als dramatisch tragendes Element auf weiten Strecken gibt der Oper dafür zusätzliche Struktur.

Im Interview im Programmbuch sagt Placido DOMINGO, daß es sein Traum war "Cyrano" in Paris zu singen (er hat seit Jahrzehnten nicht mehr in Paris gesungen). Da Domingo sich nicht damit abfinden kann, sein erhebliches Repertoire "abzuziehen", wühlt er ständig in Bibliotheken und Archiven von Verlegern. So ist ihm bei einem Besuch bei Ricordi vor neun Jahren die Partitur der total vergessene Oper Alfanos mit der von Wolf-Ferraris "Sly", in die Hände gekommen. Er beschloß, "Sly" mit Carreras aufzuführen. Gleichzeitig hatte sich auch René Koering, der Direktor des Festival von Montpellier und großer Wiederentdecker vergessener Opern, für "Cyrano" interessiert. Er überzeugte Roberto Alagna die vergessene Oper bei seinem Festival 2003 aufzuführen, was auch einen DVD Live-Mitschnitt ergab. Interessanterweise wurde "Cyrano" 2003 auch in Kiel gespielt. (existiert ebenfalls auf CD).

Domingos Traum ist nun in Erfüllung gegangen in einer spanischen Produktion der Oper von Navarra mit einer internationalen Besetzung. Regisseur Petrika IONESCO, der auch immer seine Bühnenbilder und Lichtregie und seine stilvollen und oft spektakulären Inszenierungen macht, wurde dafür gewonnen. Das Spektakel war auch diesmal der Fall. Im 1. Akt eröffnet sich der Vorhang auf der Hinterbühne des Theaters im Hôtel de Bourgogne, wo geprobt wird: Engel besteigen Pappwolken und die Kerzen eines großen Lusters werden angezündet, bevor Wolken und Luster hochgezogen werden. Dank einer ersten Fechterei zwischen Cyrano, Valvert und Montfleury werden die Seile gekappt, und die Engel stürzen ab! Im 2. Akt befinden wir uns in der Bäckerei und Küche von Ragueneaus Kneipe, dominiert von einem riesigen Backofen wird und einer vierstöckigen Stellage rechts, wo Bäckerei und Marzipan auftürmt wird. Meister Ragueneau steht auf einem fünf Meter hohen Gestell und dirigiert die Operationen von zwei Dutzend Köchen. Cyrano kommt vom Attentat der Tour de Nèfle, wo er einige Angreifer abgestochen hatte und die restliche Truppe verjagt hatte. Roxane erscheint und erbittet für ihren Geliebten Christian, der in Cyranos "Régiment des Gascons" eingegliedert wurde, daß ihr Cousin diesen von dessen wilden Kumpanen beschützt. Cyrano verspricht ihr dies und beginnt damit die Verknüpfung des Dramas. Das 2. Bild ist der erste ruhige Höhepunkt der Oper, denn es ist die berühmte Balkonszene, wo Cyrano für den dämlichen Christian seine Verse und Tiraden singt.

Der 3. Akt zeigt die Szene der Belagerung von Arras, in der Christian entdeckt, daß Cyrano täglich für ihn zwei Briefe an Roxane schreibt und diese durch die Linien der spanischen Belagerer bringt. Mit dem Beginn einer Meuterei der Gascons und der großen Arie von Le Guiche, der diese unnötig in den Tod jagt, sterben sie unter den spanischen Flinten. Der 4. Akt spielt im Kloster, wo Roxane nach Christians Tod Zuflucht gefunden hat: ein weiter Garten mit einem einzigen großen Baum in der Mitte, ein sehr beruhigender Rahmen. Ihr bei Arras verwundeter Vetter Cyrano besucht sie, und sie bittet ihn, den letzten Brief ihres toten Geliebten vorzulesen. Cyrano legt so viel Gefühl in die Lesung, daß Roxane erkennt, daß er diese Briefe geschrieben hat und nicht Christian. Vor dieser jahrelangen unerfüllten Liebe ist sie in einer emotionellen Arie zutiefst gerührt, und Cyrano stirbt in den Armen der verzweifelten Roxane.

Petrika Ionesco zeigt seine Meisterschaft der Personenführung, die dieser "Comédie héroïque" voll gerecht wird, in diesen vielfältigen Rahmen. Absolut hinreißend! Die wunderbaren, äußerst stilvollen Kostüme von Lili KENDAKA trugen weiters zu dem sensationellen Erfolg der Produktion bei.

Die musikalische Leitung hatte Patrick FOURNILLIER inne, ein Spezialist der französischen Oper, der das SYMPHONISCHE ORCHESTER VON NAVARRA (von Sarasate 1892 gegründet, ist es das älteste Orchester Spaniens) sehr straff durch die nie gespielte Partitur führte und Kitsch und Schmalz vermied. Man mußte bei seinem Dirigat mehrmals an Georges Prêtre denken, sehr präzise, genau und doch animiert, sehr um das Gleichgewicht zwischen Bühne und Graben bemüht, und der die Sänger ständig umsorgt. Fabelhaft! Der CHOERU DU CHÂTELE stellte die sehr eindrucksvollen Chormassen, von Stephen BETTERIDGE fabelhaft einstudiert.

Was kann man über Placido Domingo sagen? Einfach atemberaubend! Natürlich ist er stimmlich nicht der strahlende spinto-Tenor von vor dreißig Jahren. Die Stimme ist jedoch von der unglaublicher Tragkraft, die dramatische Höhe äußerst eindrucksvoll und seine Phrasierung von perfekter Präzision, mit einer Diktion, an der viele französische Sänger etwas lernen könnten. Domingos gesangliche Intelligenz ist derart, daß die Verse wie auf dem Sprechtheater abrollen. Seine Darstellung des gascognischen Helden wechselt von Angeberei über romantische Liebe bis zur Resignation. Absolut umwerfend!

Als Roxane, die Cousine und Angebetete von Cyrano, war Nathalie MANFRINO zu hören, die die Rolle bereits in Montpellier gesungen hatte. Die junge Französin besitzt einen sehr ausdrucksvollen, kraftvollen Sopran, den sie sehr gut einsetzt (mit oft schwierigen Koloraturen) und spielt auch ausgezeichnet, intelligent und innig. Eine sehr viel versprechende Sängerin, die trotz guter Kritiken noch wenig in namhaften Häusern zu hören war. Den etwas dämlichen, schönen Baron Christian sang Saimir PIRGU hervorragend, mit strahlenden Höhen. Die Rolle ist stimmlich äußerst anspruchsvoll und darstellerisch schwierig, keine Nebenfigur. Er sollte allerdings seine französische Aussprache verbessern, denn man verstand nichts, bedauerlich bei einem so literarischen Text.

Den Bäckermeister Ragueneau sang und spielte Laurent ALVARO mit Genuß, Bravour und kraftvollem Bariton. Marc LABONNETTE lieh dem hochnäsigen, hartherzigen De Guiche seinen prächtigen Baß-Bariton, vor allem im dramatischen 3. Akt. Als Roxanes Vertraute und Schwester Marthe im Schlußakt war Doris LAMPRECHT überzeugend. Die wenigen Nebenrollen (alle in prächtigen Kostümen) wurden von Franco POPONI als Carbon und Viscomte de Valvert, Christian HELMER als Le Bret und Frédéric GONÇALVES als Lignière und ein Mousquetaire rollendeckend gespielt. Die Sprechrolle des Montfleury zu Beginn der Oper gestaltete Gérard BOUCARON ebenfalls sehr gut.

Ein unvergeßlicher Abend, die man nicht vergißt. Wie der vor vierzig Jahren, als ich Domingo zum ersten Mal in der Arena in Verona als Don Carlo sah. Ein Triumph auf der ganzen Linie, das Haus tobte wie selten in Paris! wig