Nachwort zu Gounods "Mireille":

Charles Gounod (1818-1893) war Schüler von Halévy, Lesueur und Paër, erhielt 1839 den Prix de Rome und lernte viele bedeutende französische Persönlichkeiten in der Villa Medici kennen. Fanny Hensel, Felix Mendelssohns Schwester, war auch in Rom und machte ihn mit dem Werk ihres Bruders vertraut, aber auch mit der Musik von Bach und Beethoven. Der berühmte Dominikaner-Prediger Lacordaire weilte auch in der Villa Medici und beeinflußte später maßgeblich die sehr pietistische Restauration in der katholischen Kirche Frankreichs, ebenso wie Charles Gay, der später Bischof von Poitiers wurde. Der Einfluß der beiden Persönlichkeiten löste in Gounod eine mystische Krise aus, und er überlegte ernstlich, Priester zu werden. Obwohl er nie geweiht wurde, hatte diese Krise einen großen Einfluß auf sein musikalisches Werk, nicht nur seine Opern (insgesamt dreizehn), sondern auch mehrere Messen und geistliche Oratorien.

"Mireille" wurde 1863 komponiert, vier Jahre vor "Roméo et Juliette" und fünfzehn Jahre nach "Faust", und wurde im Februar 1864 im Théâtre Lyrique (dem heutige Châtelet) uraufgeführt. Von den heroischen Werken der Zeit unterscheidet "Mireille" sich darin, daß das Libretto einen populären Hintergrund hat. Gounod war am Höhepunkt seiner Karriere und seines Ruhmes. Zwar hat er die fünf Akte der "Grand Opéra" beibehalten, doch die Tatsache, daß das Roman-Epos "Mireio" des berühmten Frédéric Mistral (1830-1914, 1907 Nobelpreis in Literatur) den Rahmen für das sozial-kritische Libretto von Marcel Carré geliefert hatte, erlaubte Gounod ein aktuelles, "soziales" Thema zu vertonen. Mistral zeigte in seinem Epos die archaischen Zustände der Provence des 19. Jahrhunderts, von tiefer Gläubigkeit und krassem Aberglauben dominiert. Gounod verbrachte mehrere Monate in Saint Rémy de Provence (auf Mistrals Einladung), besuchte die Orte der Handlung, besprach sein Projekt mehrmals mit dem berühmten Dichter und komponierte die ganze Oper in drei Monaten in seinem Hotelzimmer, wo er ein Klavier einstellen ließ.

Aber in einer Zeit der Geschichte Frankreichs, wo die Devise Napoléon III. war "Enrichissez-vous, amusez-vous!", war die Oper, ihr dramatischer Inhalt und das tragische Ende eine Herausforderung - und fiel natürlich durch. Direktor Carvalho und dessen Gattin Marie-Caroline Miolan-Carvalho, die die Mireille gesungen hatte, beschworen Gounod die Oper auf drei Akte zu kürzen mit einem glücklichen Schluß. Diese Kurzfassung wurde im Herbst 1864 ebenso im Théâtre Lyrique aufgeführt und fand diesmal Anklang. Mehrere Pfuscher haben weiterhin an der Partitur "gewirkt", bis schließlich Reynaldo Hahn und Henri Busser, Schüler Gounods, die Urfassung 1909 wieder aufführen ließen. wig.