"DIE TOTE STADT" - 24. Oktober 2009

Erstaufführung an der Pariser Oper

Korngolds "Die Tote Stadt" gehört den schwierigsten Werke der Opernliteratur überhaupt. An dieser Oper ist weniger die Musik schwierig, denn daß Korngold einer der großen Meister der Spätromantik ist, steht außer Frage. Es ist aber schwer zu verstehen, wieso ein junger, lebensfroher, höchst erfolgreicher Komponist, gefeiert in der ganzen Welt, mit kaum zwanzig Jahren sich für ein derartig morbides, symbolistisches Werk wie Rodenbachs "Bruges-la-Morte" erwärmen konnte, ja sich so begeisterte, daß er darauf eine Oper komponierte!

Vater Julius Korngold, Nachfolger Hanslicks bei der Wiener "Neuen Freien Presse", hatte sehr wohl gewußt, was er tat, als er seinen neunjährigen Sohn, das Wunderkind Erich Wolfgang Korngold (1897-1957), Gustav Mahler vorstellte. Denn Mahler war von dessen Kantate "Gold" so begeistert, daß er ihn an Zemlinsky verwies, der nach zwei Jahren das Handtuch warf und Hermann Grädener, seinen Nachfolger gemein fragte: "Was hat er dir diese Woche beigebracht?" Korngolds Ballett "Der Schneemann" wurde 1910 an der Wiener Hofoper uraufgeführt - er war 13! 1915 dirigierte Richard Strauss die Uraufführung der Sinfonietta des Achtzehnjährigen mit den Berliner Philharmonikern! Arthur Schnabel spielte seine Klaviersonate in ganz Europa. 1916 brachte München seine einaktige Oper "Violanta" mit Maria Jeritza mit großem Erfolg. Puccini war bei der Premiere und zeigte sich sehr beeindruckt.

Am 4. Dezember 1920 wurde "Die Tote Stadt" in Hamburg und Köln gleichzeitig uraufgeführt, gefolgt von Wien (unter Schalks Leitung, mit Jeritza und Oestvig!), Berlin, Leipzig, München und New York. 1926 wurde Korngold von Richard Strauss als Dirigent an die Wiener Oper engagiert. Er bewunderte Strawinsky und die Neue Musik, schätzte aber gar nicht die Dodekaphonie. Einen großen Fehler machte jedoch Vater Julius als er Kreneks Oper "Jonny spielt auf", die ein Welterfolg werden sollte, total verriß und sich mit der ganzen Schar der modernen Komponisten zerstritt. Für Korngolds Oper "Das Wunder der Heliane" war das 1926 allerdings nicht behilflich.

1934 folgte Korngold Max Reinhardt nach Hollywood, um Mendelssohns Musik für dessen Film "A Midsummer Night's Dream" zu adaptieren. Mit Reinhardt hatte Korngold schon mehrere Wiener Operetten arrangiert (seine Bearbeitung von "Eine Nacht in Venedig" wurde in den fünfziger Jahren in der Wiener Volksoper gespielt). In Kalifornien wurde Korngold mit Filmmusik berühmt und steinreich: er wurde Chef-Komponist von Warner Brothers und erhielt mit seiner Musik für "Robin Hood" seinen 1. Oscar, der nicht sein letzter sein sollte. Sein sehnsüchtiger Wunsch, nach dem Krieg wieder nach Wien zurückzukehren, wurde nicht erfüllt. Zwei Versuche verliefen glücklos, obwohl Furtwängler seine "Symphonische Serenade" B-Dur, op. 39 mit den Wiener Philharmonikern 1950 in Korngolds Anwesenheit uraufführte. Seine Opern wurden auch nicht mehr gespielt. Erst in den letzten 25 Jahren haben einige Theater "Die Tote Stadt" wieder ausgegraben, vor allem Wien in einer Inszenierung von Götz Friedrich, gefolgt u. a. von Strasburg (2001 im Châtelet wiederholt), der NY City Opera und 2004 wieder Wien. Es wäre in hohem Masse wünschenswert, daß man sich dem Werk Korngolds etwas mehr widmete und seine anderen Opern auch spielte.

Der Name des Librettisten Paul Schott ist ein Pseudonym aus dem Vornamen der Hauptfigur und dem Familiennamen des Verlegers: Korngold und sein Vater Julius zusammen hatten das Textbuch des bei Schott in Mainz erschienene Werks nach dem Theaterstück "Le Mirage" des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach verfaßt (der seinen Roman "Bruges-la-Morte" selbst für die Bühne adaptiert hatte). Paul betrauert seine tote Frau Marie und ist von der Ähnlichkeit mit der Tänzerin Marietta betroffen und besonders ihren Haaren, die er in einem gläsernen Schrein aufbewahrt (Haarfetischismus ist ja typisch symbolistisch, siehe "Pelléas et Melisande"). Das Werk verschwimmt zwischen Traum, Spuk und Realität, was zu großartigen orchestralen Ensembles Anlaß gibt. Es taucht den Zuschauer in diese morbid-fetischistische Atmosphäre Pauls. Man fragt sich, was wohl Freud von diesem Werk gehalten hat, der Korngold ja sicher gekannt hatte.

Korngold hat alle musikalischen Einflüsse Wiens der Jahrhundertwende aufgesogen wie ein Schwamm, aber seinen eigenen Stil geschaffen, ja oft vorausgesehen und ist ein unglaublicher Meister. Wie viele seiner Zeitgenossen (Busoni, Zandonai, Pizzetti, Schrecker, Wolf-Ferrari) war Korngold sowohl von der deutschen Spätromantik als auch vom italienischen Verismus beeinflußt, aber auch von Debussy, J. Strauß, Lehár und Leo Fall. Epigone oder Vorläufer? Öfters ertappt man sich: "Das hast du doch schon einmal so ähnlich gehört?". Wenn man aber erkennt, daß das einfache Marietta-Lied ("Glück das mir verblieb") an das Laurettas in "Gianni Schicchi", das große Duett des 2. Aktes an das zwischen Turandot und Kalaf, oder die stimmliche Behandlung der Rolle des Paul oft an den Apollo in "Daphne" erinnert, bemerkt man erst, daß diese Werke erst einige Jahre, ja Jahrzehnte später geschrieben worden sind.

Es ist der Verdienst der Direktion von Nicolas Joel nicht nur die "Die Tote Stadt" an der Paris Oper als zweite Erstaufführung in dieser Saison zu bringen, sondern in einem Rahmenprogramm die gesamte Kammermusik des Wiener Komponisten aufgeführt zu haben. Weiters war im Foyer der Bastille-Oper eine größere Anzahl Dokumente ausgestellt, nicht nur Fotos, sondern auch Programme und Filmplakate.

Die Vielschichtigkeit des Librettos ist derartig komplex, daß selbst nach mehrfachem Besuch der Oper man nie genau weiß, an welcher Stelle die Wirklichkeit in Traum umschlägt und umgekehrt. Die Inszenierung (Staatsoper Wien, 2004) von Willy DECKER, von Meisje Barbara HUMMEL in Paris aufgebaut, ist einfach, äußerst passend, vielschichtig und immer an der Grenze des Spukhaften, doch kaum angetan, den Zuschauer das Verständnis zu erleichtern. Wolfgang GUSSMANN hat, wie immer bei Deckers Inszenierungen, ein einfaches Bühnenbild geschaffen, hier ein großes Wohnzimmer, sowie die sehr schönen weißen Kostüme für Marietta und ihre Truppe, während Paul und Frank in einfacher Straßenkleidung spielten.

Besonders gelungen war die Bühne auf der Bühne in der Form eines verkleinerten Zimmers Paul (der darin von einem Mimen gespielt wird), das aus der Hinterwand des Zimmers herausfährt. In der Szene mit Mariettas Truppe ist die Doppelbödigkeit besonders scharf, in der der gemimte Paul die Clown-Truppe Mariettas integriert, während der "wahre" Paul den ganzen Hexensabbat beobachtet. Deckers Personenregie ist einfach, scheinbar präzise, aber läßt den Sängern relativ viel Spielraum. Die Beleuchtung von Wolfgang GOEBBEL war ausgezeichnet, denn das Licht, besonders die Projektion eines Riesenbilds Maries in der Clown-Szene ebenso wie die eindrucksvolle Prozession des heiligen Bluts waren die Höhepunkte des Abends. Athol FARMER zeichnete für die gelungene Choreographie.

Das ORCHESTRE DE L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS in großer Besetzung und der CHOR (Leitung Patrick Marie AUBERT) unter der Leitung von Pinchas STEINBERG wurde der unbekannten Partitur komplett gerecht: Strauss'scher Orchesterrausch und lyrische Subtilität. Steinberg wußte die oft gigantischen Orchesterwogen sehr straff zu halten und der Partitur trotz der über hundert Musiker im Graben Transparenz zu geben. Besonders die große Prozessions-Szene im 2. Akt war von großer Präzision und Dichte. Anderseits ließ Steinberg keinerlei Sentimentalität aufkommen, wie in Mariettas Lied die Gefahr besteht. Absolut perfekt!

Die beiden Hauptrollen können nur von erstklassigen Sänger-Schauspielern überhaupt dargestellt werden. Robert Dean SMITH gab dem Paul das richtige Profil, ein von Ängsten und vom Bild der toten Marie Verfolgter, der ständig an der Grenze des Irrsinns wandelt. Die Rolle ist stimmlich und darstellerisch außergewöhnlich anstrengend und exponiert. Robert Dean Smith konnte hier seinem prachtvollen Heldentenor leuchten lassen. Seine Partnerin in der zwielichtigen Rolle der Marietta/Marie war Ricarda MERBETH, stimmlich hervorragend und darstellerisch absolut hinreißend mit ungewöhnlichem Temperament in ihrer fröhlichen Unbekümmertheit.

Ein wirklicher Freund Pauls war Stéphane DEGOUT als Frank in seiner erdhaften Natürlichkeit, der einzige "normale" Mensch in dieser morbiden Umgebung. Er spielte auch als Doppelgänger den Fritz in Mariettas Truppe (alle in Weiß) mit großem Geschmack. Doris LAMPRECHT als Haushälterin Brigitta stach mit ihrem warmen Mezzo hervor und ihrer rührenden Anhänglichkeit an den leidenden Paul. Alain GABRIEL als Victorin sang und spielte das hübsche Pierrot-Lied mit Schwung und Geschmack. Die anderen Mitglieder von Mariettas Truppe waren durchwegs rollendeckend, ohne zu outrieren: Elisa CENNI (Juliette), Letitia SINGLETON (Lucienne) und Alexander KRAVETS (Graf Albert), sowie Serge LUCCHINI als Gaston.

Stürmischer und dankbarer Beifall für diese großartige Premiere eines sehr schwierigen Werks, fast neunzig Jahre nach der Uraufführung! wig.