"ANDREA CHENIER" - 15. Dezember 2009

Erstaufführung an der Pariser Oper

Und nun Nummer 3! Das ist nämlich die dritte Erstaufführung in drei Monaten der neuen Direktion an der Pariser Oper. Direktor Nicolas JOEL beginnt seine erste Saison mit Vollgas! Obwohl "Andrea Chenier" vor Jahrzehnten auf Französisch an der Opéra comique gespielt worden ist, hat es Giordanos Meister-Oper nie in die Pariser Oper geschafft. Wohl ein Beweis von Vernachlässigung des Repertoires!

Denn Umberto Giordano (1867-1948) ist sehr zu Unrecht vernachlässigt worden. Und nicht nur in Frankreich und besonders Paris. Denn von seinen vierzehn Opern werden nur mehr "Andrea Chenier" und bisweilen noch "Fedora" und äußerst selten "Siberia" aufgeführt. "Andrea Chenier" ist ein Meisterwerk und in seiner außergewöhnlichen Dramatik und aufgelösten Tonalität für seine Zeit ungewöhnlich "modern" - vier Jahre vor "Tosca" - aber enthält viel weniger Ohrwürmer.

Die Rolle des Chenier gehört zu den dramatischsten des italienischen Repertoires, mit der der junge Tenor Giuseppe Borgatti bei der Scala-Uraufführung am 28. März 1896 über Nacht berühmt wurde (ebenso wie Enrico Caruso als Loris Ipanov in "Fedora" zwei Jahre später). Gustav Mahler schätzte die Oper sehr und leitete bereits ein Jahr nach der Mailänder Uraufführung in Hamburg die deutschsprachige Premiere. Luigi Illica hat ein sehr geschicktes Libretto für dieses "Dramma istorico" gedrechselt, das die tragische Handlung spannungsvoll zur Geltung bringt. Und Giordano hat den Sängern ausgesprochen "dankbare Rollen" geschrieben, sogar den Comprimarii.

Die Vorstellung war in allen Belangen mustergültig. Obwohl die Inszenierung von Giancarlo DEL MONACO von der Pariser Kritik verrissen wurde, waren die Bühnenbilder von Carlo CENTOLAVIGNA und die Kostüme von Maria FILIPPI äußerst passend. Wenn der Vorhang aufgeht, zünden Lakaien auf Leitern die Kerzen eines riesigen Rokoko-Kronleuchters an, der dann hochgezogen wird. Die Gäste der Comtesse de Coigny, einheitlich in schwarze Roben und Gehröcke mit ausgefallenen Perücken gekleidet, charakterisieren die triste Gesellschaft des Fin de règne sehr treffend, was auch für die kleine Bühne auf der Bühne gilt, auf der lächerliche Hirtenspiele (Mini-Choreographie von Laurence FANON) vor einem gelangweilten Publikum des Ancien Régime aufgeführt werden.

Im 2. Akt störten einige Anachronismen: die Terrasse des Feuillants ist ein Teil der Tuillerien-Gärten und kein klobiges Gebäude, auf der Roucher Chenier den Paß gibt und sich dann das Tribunal einfindet. Aber dadurch konnte Chenier darunter seine Geliebte Maddalena di Coigny? treffen und Gérard konnte beide belauschen. Der Altar für Marat um den Obelisken, den Napoleon erst zehn Jahre später in Ägypten gestohlen hat und vor dem die Carmagnole getanzt wird, war nicht sonderlich befriedigend und zu weit im Hintergrund, so daß man ihn von den Seitensitzen überhaupt nicht sah. Der 3. Akt begann auf praktisch leerer Bühne, hinten von einer riesigen Trikolore abgegrenzt, bevor dann der Zuschauerraum eines Theaters hereinrollt, in dessen Logen sich die Revolutionäre tummeln, während das Revolutionstribunal im Vordergrund beginnt. Den Schlußakt dominiert ein riesiges Gitter, vor dem sich Chenier und Maddalena wieder finden. Die Beleuchtung von Wolfgang von ZOUBEK war durchwegs passend.

Der musikalische Teil der Aufführung war einfach großartig. Ein Spezialist des italienischen Repertoires, Daniel OREN, stand am Pult und zeigte sich von seiner besten Seite. Er wußte die Sänger nicht nur gut zu begleiten, ja zu großartigen Leistungen anzustacheln, sondern vermied auch, sie zuzudecken. Er arbeitete die ungewöhnliche Dramatik der schillernden Musik brillant heraus. Das ORCHESTRE DE L'OPÉRA DE PARIS war von dem Maestro sichtlich angetan, denn das Orchester feierte ihn mit einer "standing ovation" am Ende des Abends. Hervorragend! Der CHOR DER OPÉRA NATIONAL DE PARIS unter der Leitung von Patrick Marie AUBERT (aus Toulouse importiert) war ebenfalls in seinem Element und spielte mit großem Einsatz.

Marcelo ALVAREZ war als Andrea Chénier ein träumerischer romantischer Dichter. Der kräftige spinto-Tenor des Argentiniers trägt hervorragend und sang die schwierige Rolle mit fast heldischen Tönen. Er gestaltet auch die lyrischen Stellen mit Maddalena mir großem Einsatz. Manchmal schluchzt er ein wenig zu viel. Sein "Avviso" im 1. Akt war von ausgesuchter Finesse, sein "Si, fu soldato" im 3. Akt war heroisch und stolz. Der Tenor erhielt mehrmals Szenenapplaus. Micaela CAROSI war seine Geliebte Maddalena di Coigny und vermittelte die große Steigerung von der sorglosen Aristokratin zur gereiften Frau mit prachtvoll strahlender Stimme, die keinerlei Schwierigkeiten scheut. Mit ausgezeichneter Diktion sang sie die spektakulären Höhen, sowie "La mamma morta" mit lyrischer Innigkeit.

Carlo Gérard, der Spielgenosse ihrer Kindheit, der sich in sie verliebt, war wie in Toulouse vor zwei Jahren Sergei MURZAEV, dessen Stimme sich sehr erfreulich entwickelt hat. Das rauhe, etwas vulgäre Pressen der Stimme ist völlig verschwunden und hat sich zu einem ungewöhnlich melodiösen und breiten Bariton entwickelt. Seine kraftvolle Stimme ist für die Rolle des revoltierenden Lakaien ideal, zumal er auch ausgezeichnet spielt. Er wird ein großer Nabucco und Macbeth werden. Eine sehr erfreuliche Entwicklung! Auch Stefania TOCZYSKA als Comtesse di Coigny war bereits in Toulouse zu hören und dominierte die nicht sehr große Rolle mit ihrer ausgeprägten Bühnenpersönlichkeit. In der kurzen, aber wichtigen Rolle der Bersi war Francesca FRANCI ganz richtig am Platze.

Die meisten anderen Sänger hatten wir mit wenigen Ausnahmen bereits im Vorjahr in Toulouse gesehen. Vor allem Maria José MONTIEL als Madelon, die in ihrem rührenden Lied, in dem sie ihren Enkel der Nation opfert, auch mit verdientem Applaus belohnt wurde. André HEYBOER als Roucher, ebenso wie Igor GNIDII als Fléville waren rollendeckend. Die anderen Nebenrollen hatten auch in Toulouse schon gesungen und waren alle passend: Antoine GARCIN als Fouquier-Tinville, David BIZIC als Sanculotto Mathieu, Carlo BOSI als Incredibile, Bruno LAZZARETTI als Abate, Ugo RABEC als Schmidt und Guillaume ANTOINE als Dumas.

Tobender Beifall für alle Künstler des nach italienischer und veristischer Musik lechzenden Pariser Publikums, das die Bastille-Oper bis auf den letzten Platz gefüllt hatte. wig.