"TANCREDI" (konzertant) - 16. Dezember 2009

In der italienischen Opernliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts war "Geheimnistuerei" sehr beliebt. "Tancredi" gehört dazu, wie "Semiramide" oder "Zelmira" vom selben Rossini. Denn in allen "Geheimnistuerei-Opern" kennt meist nur eine Person das Geheimnis, das erst in den letzten fünf Minuten von einem "Deus ex machina" gelüftet wird. Pietro Metastasio hatte dieses Genre geschaffen und zur Perfektion geführt. Die Libretti der beiden ersten Melodramme hat allerdings Gaetano Rossi auf dem Gewissen, und beide haben Tragödien von Voltaire als Vorlage. Nicht unbedingt das Beste, was der der große Philosoph geschrieben hat. In den etwa drei Dutzend Bänden der Gesamtausgabe in der noblen "Collection de la Pléiade" sind diese Stücke wohlweislich nicht eingeschlossen.

Hätte Amenaïde nämlich gesagt, daß der abgefangene Brief nicht an den Sarazenen-Fürsten Solamir gerichtet war, sondern an Tancredi, wäre die Oper nach einer halben Stunde aus … und Rossini hätte seine zwei Dutzend Kavatinen, Cabaletten, Ensembles und Bravour-Arien nicht geschrieben. Doch grad hier waren diese für den zwanzigjährigen Rossini entscheidend, denn er wurde 1812 an der Fenice mit "Tancredi" über Nacht berühmt.

"Tancredi" ist in vieler Hinsicht ein Unikum. Bereits die sehr militärische Ouvertüre wird fast ständig von dem einzigen Schlagzeug, einer großen Trommel mit Becken drauf, verwendet - so ein Instrument mit dem Bajazzo in Leocavallos Oper auf die Bühne kommt, das eher in einer Banda municipale in Terni, Rovigo oder Benevent findet. Diese Banda-Trommel wird viel eingesetzt. Sie begleitet auch regelmäßig den Männer-Chor, in dem mehrmals Tenöre und Bässe sich gegenseitig antworten und in die Arien eingreifen. Viele der Arien und Ensembles werden von Violine, Holzbläsern oder Trompete solistisch begleitet. "Tancredi" ist deshalb musikalisch äußerst abwechslungsreich. Einer der Höhepunkte ist das Gottesgericht, bei dem Tancredi den bösen Orbazzano erschlägt und zum König ausgerufen wird - hat sich da Wagner für "Lohengrin" etwas abgeguckt?

"LA GRANDE ÉCURIE ET LA CHAMBRE DU ROY" ist eines der französischen barocken Kammerorchester, die seit vielen Jahren die französische Barock- und Klassik-Szene bevölkern. Die "Grande Écurie" ist von dem Dirigenten (und Oboisten) Jean-Claude MALGOIRE 1966 gegründet worden und hat sich in der ramponierten Textilstadt Tourcoing in Nordfrankreich, östlich von Lille, eingenistet. Er gründete auch 1981 das "Atelier Lyrique de Tourcoing", aus dem ein professioneller Kammerchor, das "ENSEMBLE VOCAL", hervorgegangen ist und wo Malgoire viele junge Sänger dem Publikum vorgestellt hat. Viele der heute bekannten Sänger sind bei ihm erstmals aufgetreten und danken ihm dies, in dem sie immer wieder bei ihm singen. Viele Jahre hat sich Malgoire vornehmlich mit Barockmusik, mit Bach-Passionen, Händel-Opern und einer Mozart - Da Ponte - Trilogie einen Namen gemacht. Wie viele seiner Barock-Kollegen, ist Malgoire in die Klassik, Romantik und weiter vorgestoßen.

In einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Théâtre des Champs Elysées bringt das Ensemble alljährlich eine szenische Produktion aus Tourcoing konzertant nach Paris. Nach Rossinis "Ciro in Babilonia" (auch 1812 komponiert) vor zwei Jahren, ist dies nun die zweite opera seria von Rossini, die Malgoire in Paris spielt. Man sieht, daß die Oper bereits szenisch gespielt und heftigst geprobt worden ist, denn die Sänger in Straßenkleidung singen auswendig und spielen hinter dem Rücken des Dirigenten, d.h. vor dem Orchester an der Rampe. Was sehr ungewöhnlich ist, aber für die hohe Qualität der Sänger und viel Probenarbeit spricht.

Die hier gespielte Fenice-Version von 1812 endet tragisch, denn Tancredi, der in der Schlacht mit Solamir schwer verwundet wurde, stirbt in den Armen von Amenaïde. In der Ferrara-Version von 1813 endet die Oper mit einem happy end, das zu einem fröhlichen Sextett Anlaß gibt. Als Zugabe gab das Ensemble das glückliche Finale "Felicità!", natürlich vom Publikum begeistert empfangen.

Auch diesmal waren hervorragende Sänger zu hören. Die Titelrolle hatte Nora GUBISCH inne, die man kaum mehr als Nachwuchssängerin bezeichnen kann und sich einen Namen im modernen Repertoire gemacht hat. Ihr Umstieg ins romantische Koloratur-Fach erweckte große Erwartungen. Ihr prachtvoller Mezzosopran ist dunkler geworden, so daß man fast von einem Alt sprechen kann. Sie besitzt eine dieser wunderbaren seltenen Bronze-Stimmen, die die Intensität der Rolle männlicher macht. Was in keiner Weise ihre phänomenalen Höhen oder die Agilität der Stimme in Frage stellt. Phantastisch! Elena de la MERCED sang Tancredis Geliebte Amenaïde. Die junge Katalanin besitzt eine ungewöhnlich kraftvolle Stimme, die man in die Kategorie soprano drammatico di agilità einreihen kann. Bereits ihre von Koloraturen gespickte Auftrittsszene "Come dolce all'alma mia" war ein Triumph. Und es gibt hier noch viele solcher Arien. Eine künftige Anna Bolena, Maria Stuarda oder Medea!

Ihren Vater Argirio, den Herrscher von Syracusa, gab Filippo ADAMI mit geschmeidigem, aber noch nicht ganz vollends geformtem Tenor eine sehr glaubhafte Darstellung. Auch diese Rolle hat zahlreiche Koloraturarien, die heute nur wenige Tenöre besser singen könnten, außer vermutlich Juan Diego Florez. Orbazzano, der auf den Thron von Syracusa will und auch Amenaïde hofiert, war der hünenhafte junge Baß Christian HELMER, von dem man auch noch hören wird. Er hat zwar eine recht unangenehme Rolle, denn er ist es, der Amenaïde des Hochverrats bezichtigt.

Als Amenaïdes Freundin Isaura, die auch in das Geheimnis eingeweiht ist und schließlich alles dem Vater verrät, war Gemma COMA-ALABERT mit schönem Mezzo mehr als zufrieden stellend. In der kleinen Rolle des Roggiero, dem Freund Tancredis, war die blutjunge Sopranistin Valérie YENG-SENG sehr passend. Trotz ihres Namens stammten ihre Vorfahren vermutlich vom Südrand des Mittelmeers und nicht aus China. Besonderen Dank verdienten auch der Studienleiter und Cembalist der Aufführung Benoît HARTON, sowie der Soloviolinist Philippe COUVERT.

Eitle Freude und Wonne und viel Applaus für die Sänger, Alt-Meister Malgoire und das ganze Ensemble. wig.