"FALSTAFF" - 24. Februar 2010 (Premiere)

Was für Heldenbaritone Wotan ist, ist für einen Verdi-Bariton Verdis Falstaff, ein "Muß". Diese Rollen sind für Spitzensänger sozusagen der Lackmus-Test. Wenn man kein Schwergewicht ist, muß man sich für den Falstaff ausstopfen, und eine Schwitzkur über sich ergehen lassen. Diesmal hat sich Anthony MICHAELS-MOORE der Kur unterworfen, der vor neun Jahren im Châtelet noch Ford sang. Der elegante Schotte ist als Vaterfigur in Verdi-Rollen mit seinem vollen Kavaliers-Bariton auf allen großen Bühnen der Welt bekannt. Sein Falstaff wurde deshalb mit großem Interesse erwartet. Er hat die "Schwitzprobe" großartig bestanden.

Es war zu erwarten, daß er keinen röhrenden, polternden Angeber darstellen würde, sondern einen herunter gekommener Gentleman, was er bereits in der 1. Szene mit "L'onore" zeigte. Auch seine Werbung um Alice und Meg ist immer von britischem Understatement geprägt. Er zeigte sich aber im letzten Bild als der Drahtzieher der ganzen Handlung, wenn er Bardolfo entlarvt. Unverständlicher weise wurde die fulminante Schlußfuge "Tutto e burla" von allen Mitwirkenden sitzend gesungen, festgeschraubt auf ihren Sitzen und Plüschbänken. Eher ein Familien-Bild des 18. oder 19. Jahrhunderts, als der Schluß einer der lebendigsten Opern des Repertoires.

Ebenso unerwartet war die Alice Ford von Anna Caterina ANTONACCI. Diese großartige, für dramatische, ja blutrünstige, Rollen bekannte Tragödin, hat mit Verdis letzter Oper eine schöne, leichte Abwechslung gewählt und sie brillant auf die Bühne gestellt. Es war klar, daß sie stimmlich nicht enttäuschen würde. Doch die kluge Leichtigkeit in ihrem Spiel zeigte das ungewöhnliche Talent dieser Künstlerin. Ihre "Nebenbuhlerin" Meg Page hatte es natürlich schwer, obwohl Caitlin HULCUP die Rolle bestens sang und spielte.

Im süßen Liebespaar, das Vater Ford einen Streich spielt, sang der junge Sizilianer Paolo FANALE den Fenton, der einen sehr gepflegten tenore di grazia besitzt, was er gut in den verschiedenen kurzen Kuß-Szenen mit der hübschen Nannetta von Chen REISS, mit schönem, gut geführten Sopran, zeigte. Beide spielten treffend in der Intrige mit.

Marie-Nicole LEMIEUX als Mrs. Quickley bot ein Gustostück. Sie ließ unwillkürlich an die unvergeßliche Giulietta Simionato denken, denn in Geriebenheit in Spiel und stimmlichem Ausdruck ("Reverenza!") konnte die junge Kanadierin es mit dem großen Vorbild aufnehmen. Ein zweiter Kanadier, Jean-François LAPOINTE, als Mr. Ford war ganz ausgezeichnet. Er machte einen eindrucksvollen Auftritt bei Falstaff, und seine folgende, hoch gesetzte, Rachearie war von überzeugender Intensität.

Die beiden Saufbrüder Falstaffs, Pistola und Bardolfo, waren mit Federico SACCHI und Patrizio SAUDELLI gut besetzt. Diese zwielichtigen Rollen können leicht ins Outrieren ausarten, was beide hier vermieden. Ein große Überraschung war der Dr. Cajus von Raul GIMENEZ, den manche Leser noch als den romantischen italienischen Liebhaber-Tenor der achtziger und neunziger Jahre in Erinnerung haben. Mit seiner langen Erfahrung stellte er einen wirklichen Gentleman und keine klägliche Figur dar, zumal er nach wie vor Höhen ins Theater schmettern kann wie wenige. Eine phantastische Charakterstudie!

Auch Dirigenten - vor allem Italiener - müssen sich ebenfalls an "Falstaff" messen. Daniele GATTI, seit Herbst 2009 Chef-Dirigent des ORCHESTRE NATIONAL DE FRANCE, das erste Rundfunkorchester Frankreichs, dirigierte und hatte sein neues Orchester gleich in den Graben gesteckt. Er war sichtlich in seinem Element, denn die Feinheiten der Partitur ziselierte er mit großer Liebe und Detail heraus, ebenso wie die schwellenden accelerandi in den großen Ensembles, wo er das phänomenale Blech des Orchester National schmettern ließ. Der CHOR DES THÈÂTRE DES CHAMPS-ÉLYSÉES in Frack oder Overall beteiligte sich eifrigst und stimmgerecht an der allgemeinen Verwirrung.

Über die Inszenierung von Mario MARTONE kann man allerdings geteilter Meinung sein. Nicht die Übertragung der Handlung in die Zeit der Komposition ist das Problem. Aber Falstaff als Querkopf zu sehen, der die die "bürgerliche Gesellschaft" schockieren und zerstören will, ist völliger Humbug. "Falstaff" hat aber schon gar nichts mit Klassenkampf zu tun. Dazu erzählt Mario Martone im Programm von einem zeitgenössischen Falstaff-Theaterprojekt in Neapel, das ihm als Studienrahmen diente. Man sieht dies auch im Einheits-Bühnenbild von Sergio TRAMONTI, das im Hintergrund von einer eisernen Stiegen-Konstruktion beherrscht wird und auf der Vorderbühne mit verschiedenen, passenden Versatzstücken möbliert wird. Diese Industrieruine dient hauptsächlich für die Rendezvous von Nanetta und Fenton, zum Garderobe-Wechsel von Falstaff und den Intriganten als Beobachterposten. Diese Konstruktion ist selbst im Schlußakt sichtbar, wo sie mit drei verdorrten Bäumchen geziert wird, bis eine riesige rote Eiche dahinter projiziert wird. Doch hier stört der blecherne Kram enorm, denn das Träumerische und Feenhafte fehlt völlig. Schade!

Die Kostüme von Ursula PATZAK waren dafür sehr hübsch und passend, Bardolfo war in einer abgerüsteten Militärkluft. Pasquale MARI sorgte für die passende Beleuchtung, bis auf die läppische Strahle in der Mitte der Bühne im Schlußbild, die Falstaff übergroß auf den Hintergrund projizierte; die hätte auch anderswo verstaut werden können.

Das schicke Premierenpublikum applaudierte frenetisch und feierte die Künstler herzlichst - trotz der Industrieruine. wig.