"BILLY BUDD" - 10. Mai 2010

"Billy Budd" ist eine moralische Fabel über das Böse in der Menschheit im Allgemeinen und im Militär (hier der Kriegsmarine) im Besonderen, nach der gleichnamigen Novelle von Herman Melville. Die beiden Autoren Edward M. Forster und Eric Crozier haben einen Text von besonderer Dichte und packenden Kontrasten geschaffen, mit zwei Extrem-Figuren. Auf der einen Seite der bösartige John Claggart, der alles und alle haßt, ein Teufel schlechthin, was er in seinem Monolog am Ende des 1. Akts klar ausspricht. Ihm gegenüber die "christische" Lichtfigur des Billy Budd, ein "reiner Tor", Findelkind und Stotterer, dem in seiner Naivität jegliche Schlechtigkeit fehlt. Zwischen diesen beiden Extremen tummelt sich die Menschheit in ihrer alltäglichen Banalität, hier die Seeleute des H.M.S. "Indomitable" unter dem Kommando des Kapitäns Edward Fairfax Vere, der einzige der fähig ist zu denken und zu handeln. Aber wie seine Offiziere versteckt er sich hinter den Vorschriften und bringt nicht die Courage auf, Billy Budd zu retten: "We have no choice!".

Denn der Konflikt in dieser Falle ist von lapidarer Einfachheit. Der homosexuelle Claggart ist von dem neuen Rekruten Billy Budd angezogen - er nennt ihn "Beauty". Da er ihn nicht physisch besitzen kann, will er ihn mit allen Mitteln zerstören oder zumindest beherrschen, selbst durch Bestechung von Seeleuten. Er klagt schließlich Billy Budd der Meuterei an, doch Billy hat einen Stotter-Anfall und bringt kein Wort heraus und kann sich nicht verteidigen - oder besser doch, denn er gibt Claggart einen gut gezielten Faustschlag, der diesen tötet. Das Kriegsgericht der Offiziere verurteilt Billy Budd zum Tod durch den Strang. Vere unterschreibt das Urteil, genau wissend, was Claggart im Sinne hatte. Billy Budd wird vor der kompletten Mannschaft - und mit ihrer Teilnahme - gehenkt, und man fühlt, daß die brauende Revolte früher oder später ausbrechen wird. Beängstigend!

Benjamin Britten war selbst offen homosexuell und absoluter Pazifist (er emigrierte während des Krieges nach USA um nicht zum Militär zu gehen). Er hat hier eines der packendsten Werke der Opern-Literatur geschrieben. Seine nicht einstufbare Musik kann in den zahlreichen Chor-Szenen einzig mit der elisabethanischen Musik in Verbindung gebracht werden. Aber für die Solisten gibt es auch arienhafte Monologe, wie das "Credo" Claggarts, das ganz offenbar von dem Jagos inspiriert ist. Die sonst atonale Musik - nicht im Sinne der Dodekaphonie, sondern im Verhältnis mit der Musik bis Mahler - besonders das Fehlen jeglicher Kantilene, ist deshalb sehr schwer zu singen. Die Oper ist auch dank der ungewöhnlichen Handlung auf die "schwimmende Festung" des "Indomitable" beschränkt und deshalb für die Darsteller und Regisseur eine außergewöhnliche Herausforderung. Klaustrophobisch dürfen die Sänger nicht sein...

Diese nun 3. Wiederaufnahme der Produktion von 1996 von Francesca ZAMBELLO hat nichts von der Großartigkeit und Brutalität der Premiere verloren. Es ist eine der besten Aufführungen der Bastille-Oper überhaupt. Die amerikanische Regisseurin weiß die ungewöhnlichen Möglichkeiten der Maschinerie der Bastille-Oper auszunützen - wie niemand anderer. Die eigentlich einfache Szenographie von Alison CHITTY ist völlig praktikabel, mit aufklappbarem Deck und grellen Scheinwerfern, und erlaubt Szenenwechsel in Sekundenschnelle. Der 10 m große Hauptmast mit zwei Querbalken dominiert alles wie ein Fanal in der Form eines Kreuzes. Alison Chitty hat auch die Kostüme entworfen, zwischen genau historischen Uniformen für die Offiziere und Maate bis zur minimalen Bekleidung für die Seeleute. Der englische Lichtregisseur Alan BURRETT zeichnete für die phänomenale Beleuchtung des Schiffes und seiner Besatzung.

Jeffrey TATE hatte diesmal die musikalische Leitung inne. Er leitete das ORCHESTRE DE L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS mit fast religiöser Überzeugung, um die schwierige Musik seines Landsmannes dem französischen Publikum zu vermitteln. Der von Patrick Marie AUBERT einstudierte CHOR und KINDERCHOR DER OPÉRA NATIONAL DE PARIS agierte und sang phantastisch. Ergreifend der praktisch wortlose Chor am Ende der Oper.

Die rein männliche Oper hat essentiell drei Rollen, alle anderen sind Comprimarii. Im Vorspiel erscheint der gealterte Kapitän Edward Fairfax Vere, der sein Gewissen befragt, Jahre nach den Geschehnissen. Kim BEGLEY gab hier eine erschütternde Charakterstudie. Für diese Rolle bringt Begley die ideale Stimme, diesen hellen, doch kraftvollen Tenor mit hervorragender Diktion. Abgesehen davon, daß der englische Sänger hervorragend spielt und die ganze Tragik der verspäteten Reue umwerfend ausdrückt, ebenso wie seine Resignation nach dem Unterschreiben des Todesurteils.

Für ein Hausdebüt hatte der Amerikaner Lucas MEACHEM nicht die leichteste Rolle gewählt, denn Billy Budd ist wohl eine der darstellerisch und stimmlich schwierigsten überhaupt. Seine große Statur und sein intensives Spiel, gepaart mit einem kraftvollen, gut geführten Bariton, wusste er wunderbar anzuwenden um dieses naive Naturkind darzustellen. Sein Gegenspieler, der böse John Claggart, wurde durch Gidon SAKS unglaublich packend gestaltet. Sein voller schwarzer Baß ist ideal für diese Rolle. Sein Haßmonolog am Ende des 1. Akts war eine Meisterleistung an gesanglicher Darstellung.

Die Offiziere Mr. Redburn, Mr. Flint und Leutnant Ratcliffe wurden von Michael DRUIETT, Paul GAY und Scott WILDE sehr passend als sture, gefühllose Militärs dargestellt. Dem zwangsrekrutierten Kaufmann aus Bristol, genannt Red Whiskers, gab Andreas JÄGGI eine treffende persönliche Note. Sehr gut auch der Novice (Neuling) von François PIOLINO, der zuerst ausgepeitscht und dann von Claggart zum Spionieren an Billy Budd angehalten wird. Der erste Spion, Squeak, der von Billy ertappt wird und eine Messerstecherei beginnt, wurde sehr gut von John EASTERLIN gezeichnet. Die anderen Matrosen des Schiffs waren alle ausgezeichnet: Donald (Igor GNIDII), Dansker (Yuri KISSIN), Bosun (Franck LEGUÉRINEL, Maintop (Paul CRÉMAZY), der vom oberen Querbalken in ca. 8 m Höhe singt, sowie der Freund des Neulings (Vladimir KAPSHUK). Zahlreiche kleinere Rollen wurden von Mitgliedern des Chors bzw. des Pariser Opernstudios mehr als zufriedenstellend gespielt.

Tobender und langer Applaus des nicht ganz vollen Hauses. wig.