"LA CALISTO" - 11. Mai 2010

Die venezianische Oper wird im Théâtre des Champs-Élysées seit Jahren besonders gepflegt, mit Werken von Cesti, Monteverdi, Vivaldi oder Händels "Agrippina". Der venezianische Komponist Pietro Francesco Cavalli (geboren 1602 in Cremona, gestorben 1676 in Venedig), Schüler Monteverdis, Autor von über dreißig (meist verschollenen) Opern, hatte eine besondere Verbindung mit Frankreich: auf Einladung von Kardinal Mazarin komponierte er "Ercole amante" für die Hochzeit von Louis XIV, doch die Oper wurde nie aufgeführt, sondern durch seinen "Serse" ersetzt, was aber ein Fiasko war.

"La Calisto" wurde im Teatro S. Apollinare in Venedig am 28. November 1651 uraufgeführt. Während der nicht sehr erfolgreichen ersten Aufführungsserie starb der Librettist, Giovanni Faustino, drei Wochen nach der Uraufführung. Von R. Leppard wurde "La Calisto" erst 1970 wieder für Glyndebourne ausgegraben. Von Monteverdis Parlar cantando direkt beeinflußt, hat Cavalli die Affetti weiter entwickelt und das Libretto mit - bisweilen sehr kurzen - Canzonetti und Lamenti, Arietten und Duetten bereichert. Das Libretto, inspiriert vom 2. Buch der "Metamorphosen" des Ovid, zeigt wie oft in der venezianischen Oper, Götter, Adel und Bürger in einer Mischung von ernsten, komischen und offen satirischen Umständen. Man muß ziemlich gut die antike Mythologie kennen, um dem Geschehen zu folgen, denn außer Jupiter und Juno, Merkur und Diana, kommen zahllose Nebengöttern, Nymphen, Satyre und Furien vor.

Die Geschichte dreht sich darum, daß die Nymphe Calisto, eine Dienerin Dianas, von Jupiter - auf Merkurs Anraten als Diana verkleidet - verführt und von Juno in einen Bären verwandelt wird. Aber Calisto wird von Jupiter entführt und kommt als Stern ins Firmament, was szenisch bereits nicht ganz einfach ist! Dazu gibt es noch eine Geschichte, in der die angeblich keusche Diana mit dem sie platonisch liebenden Hirten Endimione ein Verhältnis anfangen will, was aber Pan verhindert, der den Nebenbuhler zuerst einmal an eine 10 m hohe, feuerrote Pappel binden und dann in einen Käfig einsperren und von Satyren quälen läßt. Doch das ist noch nicht genug, denn die Nymphe Linfea, rabiater Keuschheits-Capo bei Diana, ist total mannstoll und gibt dies in einer amüsanten, sehr direkten Arie "D'haver un consorte, io son risoluta, voglio essere goduto ..." kund. Schließlich kommt noch Juno, über das Betragen ihres Gesponses recht unzufrieden, und schlägt Krach. Bei der Komplexität der Handlung ergibt das eine ziemlich lange Aufführung - gute viereinhalb Stunden.

Macha MAKEIEFF hat sich diese Ausgrabung vorgenommen und zeichnete für Inszenierung, Szenographie und Kostüme. Daß bei Makeïeff kein barockes Götterdrama herauskommen würde, war klar. Doch hier war es bisweilen übertrieben. Die Bühnenbilder waren zwar etwas verrückt, aber immer "ansehbar". Eine gute Idee war den Olymp als einen großen Spielwürfel von ca. 3m Seitenlänge darzustellen. Bei jedem Auftritt der Hauptgötter Jupiter und Juno kracht es Blitz und Donner, einige Auftritte erfolgen über Sonnen- oder Mond-Gondeln durch die Luft. Die Farben der Kostüme und Versatzstücke sind durchwegs knallig. Endimione trägt natürlich ein Schaf auf dem Arm, auch ein Wolf kommt einmal vor, und die Verwandlung Calistos in einen rosaroten Teddy-Bären ist etwas gewagt. Die Beleuchtung von Dominique BRUGUIÈRE ist großteils grell. Die Farsa wird hier zum Kabarett. Makeïeff verfiel jedoch nicht de Versuchung die Satire in die Jetztzeit zu versetzen. Lionel Hoche zeichnete für die passende Choreographie. Makeïeff hat offenbar die Sänger sehr umhegt, denn alle spielten ausnahmslos hervorragend. Die Probenarbeit war greifbar.

Christophe ROUSSET und sein Ensemble LES TALENS LYIQUES haben sich der musikalischen Seite der Ausgrabung gewidmet. Mit einer Schar ausgesuchter Musiker auf antiken Instrumenten - Theorbe, Lirone usw. - ließ er die vergessene Musik im "Urton" erklingen.

Die ganze Show beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem Destino (Véronique GENS), Eternità (Marie-Claude CHAPPUIS) und Natura (Cyril AUVITY) die Unsterblichkeit der Calisto beschließen, und die Nymphe in einen Fixstern verwandeln wollen - was ja schließlich passiert!

Sophie KARTHÄUSER war als Nymphe Calisto zu hören. Die junge Belgierin hat in den letzten zwei Jahren große Fortschritte und einen erheblichen Aufstieg verzeichnet. Da sie jung und hübsch ist und außerdem einen glockenreinen Sopran besitzt und vorzüglich phrasiert, ist sie als Calisto natürlich ideal. Sie macht in ihrer Innigkeit ein glaubhaftes Wesen aus dieser pseudo-mythischen Figur. Ihr Verführer, der Göttervater Zeus war ein weiterer junger Sänger, Giovanni Battista PARODI, der dem Giove seine hünenhafte Statur und seinen vollen Baß lieh. Er amüsierte sich sichtlich bestens, wenn er als Diana verkleidet im Falsett singen muß und die kleine süße Nymphe vernascht. Prächtig! All das wurde von dem Kuppler Merkur ausgeheckt, den Mario CASSI blendend sang und Merkur als Drahtzieher darstellte.

Die keusche Jagd-Göttin Diana, die über die Keuschheit recht relative Ansichten hat und einem Liebesabenteuer nicht abgeneigt ist, war bei Marie-Claude Chappuis in besten Händen. Sie singt nicht nur hervorragend und geschmackvoll, sondern sie spielt auch sehr gut die zwielichtige Rolle. Ihre Dienerin, die Keuschheits-Fanatikerin Linfea, Zeugin der allgemeinen göttlichen Lasterhaftigkeit, will schließlich selbst "an den Mann" kommen und war mit Milena STORTI bestens besetzt. Sie besitzt einen warmen Mezzo, phrasierte perfekt und spielte die nymphomanische Nymphe mit umwerfender Komik.

Daß das alles der Götterchefin nicht ins Zeug paßt, ist natürlich klar, und Véronique Gens brachte für die ziemlich hantige Giunone die nötige tragische Stimme, die hervorragend trägt. Daß sie eine hervorragende Schauspielerin ist, ist bekannt, ebenso wie die Tatsache, daß sie eine wirklich schöne Frau ist. Ein Augen- und Ohren-Schmaus!

Der einzige, der platonisch liebt in der ganzen lasterhaften Truppe, ist der Hirt Endimione (mit Schäfchen auf dem Arm), dem der Contratenor Lawrence ZAZZO Musikalität und Ausdruck der Rolle verlieh. Sein Gegenspieler, der Wald-Gott Pan war mit Cyril Auvity sehr gut besetzt. Bei ihm geht es aber schon gar nicht platonisch zu, sondern er will Diana mit allen Mitteln kriegen, und dabei helfen ihm eine ganze Reihe Waldgeister und Satyre, angeführt von dem sehr schön singenden Graeme BROADBENT als Sylvano und Sabina PUÉRTOLAS als Satirino. Félix DESCHAMPS gab Amore, einen etwas faulen Liebesgott.

Viel Applaus für die Künstler, trotz der sehr späten Stunde. wig.