PHILIPPE JAROUSSKY - 15. Juli 2011

Jahrhundertelang galt der "prete rosso" als barocker Vielschreiber, als einer, der - so Igor Strawinski - ein Violinkonzert zweihundertmal geschrieben habe, was hinreichend die mangelnde Wertschätzung des Komponisten Antonio Vivaldi beschrieb, dem man einzig seine "Vier Jahreszeiten" als wertbeständig, und damit letztlich eine Art genialen Ausrutschers, zuzubilligen bereit war.

Inzwischen hat sich das gründlich geändert, nicht nur der Instrumental-, sondern auch der Vokalkomponist Vivaldi ist zu Ehren gekommen; zuerst über seine Opern, von denen er mehrere Dutzend verfasste, danach aber auch mit einem relativ kleinen erhaltenen Oeuvre an geistlicher Musik, die er vermutlich im allgemeinen für das Ospedale della Pietà schrieb, an dem er als Geigenlehrer angestellt war.

Philippe JAROUSSKY hatte sich bei seinen reinen Vivaldi-Abend für eine Mischung von allem entschieden; der erste Tei enthielt geistliche Musik, der zweite Oper - und als "Intermezzi" wurden zwei Instrumentalkonzerte geboten.

Jaroussky begann mit einer Motette "Longe mala, umbrae, terrores" (Hinfort Sünden, Schatten, Schrecken), die in der Abfolge Aria - Recitativo - Aria - Alleluja konventionell bleibt, dem Sänger aber trotzdem reichlich Gelegenheit bietet, den Gegensatz zwischen hartem Erdenleben und himmlischer Späre vokal darstellen zu können.

Das mehrteilige "Nisi dominum" ist formal entschieden interessanter und auch in der rein musikalischen Erfindung reichhaltiger. Beiden gemeinsam wurde die unendliche Gesangskunst, mit der Jaroussky sie vortrug (was natürlich auch für die nach der Pause gesungenen Arien aus "Orlando finto pazzo", Catone in Unica"; und "Giustino" sowie aus "Juditha triumphans" - einem Werk, das Vivaldi unter dem merkwürdigen Titel "Sacrum Militare Oratorium" herausbrachte - galt).

Unsaubere Töne oder auch nur leichte rhythmische Schlampereien scheint es für den französischen Counter (mit seinem hellen Timbre von der Lage her irgendwo zwischen Mezzo und Sopran angesiedelt) schlicht nicht zu geben, die Intonation bleibt auch in den halsbrecherischeren Koloraturen lupenrein - und sie bleibt es ebenso in den für meine Ohren noch faszinierenderen langsamen Stücken, bei denen er nicht nur eine stupende Atemtechnik demonstriert sondern mir einem Organ, daß nach herkömmlichen Opernmaßstäben ja kaum über ein Mezzoforte hinausgeht, eine dynamische Vielfalt bis hin zum vierfachen Piano erzeugt, wie man sie in dieser - zudem jederzeit musikalisch begründbaren - Form nur alle heiligen Zeiten zu hören bekommt. Man muß freilich genau zuhören, diese Musik ist nicht für unsere laute Zeit gemacht; aber die Zuhörer im räumlich bestens geeigneten Meldorfer Dom spielten mit, man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

Begleitet wurde er vom selbst gegründeten ENSEMBLE ARTASERSE, einer Zusammenstellung hochkarätiger Spezialisten (vom dem an diesem Abend nur die Streicher und Basso-Continuo-Spieler gebraucht wurden), die allesamt ihr Können auch in anderen französischen Barockformationen unter Beweis stellen. Daß dieses dem Sänger nicht nachstand, wurde naturgemäß in den reinen Instrumentalwerken am deutlichsten. Vor der Pause stand ein Konzert für Viola d'Amore und Laute (Solisten Alessandro TAMPIERI und Claire ANTONINI) auf dem Programm, beides keine Instrumente mit großem Ton, man mußte also einmal mehr die Ohren spitzen, aber die "Arbeit" lohnte sich.

Im zweiten Teil erklang ein Violinkonzert, zu dessen Anforderungen sich am besten der Frankfurter Johann Friedrich Armand von Uffenbach, (1687-1769) zitieren läßt, der - als eine Art Frühform des "Festival-Hoppers" - ausgedehnte Musikreisen durch Europa unternahm und über seine Eindrücke Tagebuch führte. Der Kommentar zu Vivaldis eigenem Spiel, den er 1715 verfaßte, spiegelt am Ende auch ein Gutteil Ratlosigkeit ob der damals - im Wortsinn - unerhörten spieltechnischen Neuerungen wider:

"... gegen das ende spielte der Vivaldi ein accompagnement solo, admirabel, woran er zu letzt eine phantasie anhing die mich recht erschrecket, denn dergleichen ohnmöglich so jemahls ist gespielt worden noch kann gespiehlet werden, denn er kahm mit den Fingern nur einen strohhalm breit an den steg daß der bogen keinen platz hatte, und das auf allen 4 saiten mit Fugen und einer geschwindigkeit die unglaublich ist, er suprenierte damit jedermann, allein daß ich sagen soll daß es mich charmirt das kann ich nicht thun weil es nicht so angenehm zu hören, als es künstlich gemacht war."

Heutzutage sind derartige Anforderungen nicht mehr ungewöhnlich, aber es bleibt teuflisch schwer. Und die Virtuosität, mit der Alessandro Tampieri zu Werke ging, führte nach dem ersten Satz zu ehrlich spontanen Applaus beim sonst so disziplinierten Publikum.

Ganz am Schluß wurde dann doch noch der Komponist gewechselt. Jaroussky sang eine für Farinelli komponierte Arie von Nicola Porpora, ein ganz ruhiges, verträumtes Stück, adäquater Ausklang eines traumhaften Abends. HK