Foto: Joachim Giesel

Es war mein erster Besuch in der Staatsoper Hannover, und es wird sicher nicht mein letzter gewesen sein. Die Inszenierung von Chris ALEXANDER ist ein gelungenes Beispiel für modernes Regietheater im besten Sinne, musikalisch erlebte ich eine der faszinierendsten Opernaufführungen, die ich je gesehen und gehört habe.

Schon das Konzept von Alexander ist bemerkenswert: seine Lucia ist nämlich nicht gestorben, sondern von ihrer Familie ins Irrenhaus gesteckt worden. Dort erlebt sie als alte Frau die damaligen Ereignisse in ihrer Phantasie. Ich war sehr gespannt auf die Umsetzung dieser Idee. Der Vorhang öffnet sich, am Rand des Orchestergrabens ein Bündel Mensch: Es ist die alt gewordene Lucia, noch immer im blutverschmierten Kleid, eingeschnürt in eine Zwangsjacke, neben sich den verdorrten Blütenkranz ihrer Mädchenzeit. Während eine Krankenschwester ihre Arme losbindet, werden Enricos Leute auf der Suche nach Edgardo sichtbar, und es beginnt die Handlung der Oper.

Eindringlich spielt Christiane KEMPF die alte Frau, die nie aus der Zwangsjacke (ihrer Erinnerungen) herauskommt. Sie drängt sich nicht auf und ist doch immer gegenwärtig, ein stummes Opfer ihres gewalttätigen Umfeldes. Beängstigend gut inszeniert und dargestellt ist Lucias "Tod": Nachdem Enrico und Raimondo sich während der Wahnsinnsarie mit knappen, aber eindeutigen Gesten über die zu ergreifenden Maßnahmen verständigt haben, drängen sie die Gäste hinaus und winken zwei Krankenschwestern herbei, die der zusammengebrochenen Lucia eine Zwangsjacke anlegen.

Passend zu diesem Alptraum schuf Kathrin KEGLER ein überwältigendes Bühnenbild. Eine Treppe und eine schräge Ebene, auf dem Boden verblaßte Zeichnungen eines Schlosses, von oben dagegen gesetzt riesige Scherben eines zerbrochenen Spiegels: zerbrochene Welt in düsterem Schwarz und Grau. Übermannshohe Schwerter stecken nur mit den äußersten Spitzen im Boden. Klein und verloren wirken die Menschen in dieser von Machtgier und Haß geprägten Atmosphäre. Lucias Verzweiflung beim Abschied von ihrem geliebten Edgardo überträgt sich auf die Zuschauer, und man ahnt bereits das tragische Ende. In solcher Umgebung können Liebe und Glück nicht gedeihen.

Das Orchester unter der Leitung von Hans URBANEK musiziert präzise, feinfühlig und leidenschaftlich, von ergreifender Intensität ist das Duett von Sopran und Flöte in der Wahnsinnsarie. Bemerkenswert sind die schwierigen Chorstellen: Urbanek gibt den Einsatz, verschränkt dann die Arme, lehnt sich zurück und genießt den perfekten Zusammenklang von Chor und Orchester. Großes Kompliment an alle Beteiligten.

Die Krone des Abends gebührt Carmen FUGGISS als Lucia. Mit ihrer wunderschönen warmen Stimme beherrscht sie die Partie in allen Lagen, wie auf Samt gebettete Perlen schimmern ihre Koloraturen, und mit ihrer Ausstrahlung verzaubert sie alle Anwesenden. Wenn sie singt, hält das Publikum den Atem an. Stehende Ovationen gab es am Ende für diese phantastische Leistung.

Als Edgardo war an diesem Abend Anton KUHN vom Lübecker Theater kurzfristig eingesprungen. Er fand sich gut in die Inszenierung ein und überzeugte mit dem leuchtenden Timbre seines klangschönen Tenors, der in den Ensembles und den Duetten wunderbar mit den jeweiligen Partnern harmonierte und in seiner großen Schlußszene noch einmal richtig aufblühte. Man wünscht sich, den sympathischen Sänger öfter an einem solchen Haus im Zusammenspiel mit solchen Kollegen zu erleben.

Klaus-Michael REEH als Enrico war ein ebenbürtiger Gegenspieler. Beim Racheschwur sang er noch etwas zu forciert, aber diese Überspannung legte sich schnell und er konnte seine gesanglichen und darstellerischen Qualitäten bestens zur Geltung bringen. Besonders schön der Anfang des Ensembles gemeinsam mit Edgardo am Ende des zweiten Aktes ("Chi mi frena in tal momento").

Beim ersten Auftritt von Raimondo (sehr gut besetzt: Axel WAGNER), mit salbungsvollem Ausdruck und aufgesetzt religiösem Gehabe wurde bereits klar: dieser Mann ist ein feiger Intrigant, einer der mit den Wölfen heult und sich so sein Auskommen sichert. Positiv auf sich aufmerksam machte Thomas SCHELER als Normanno mit schöner Stimme. Es wird interessant sein, die Entwicklung des jungen Tenors zu verfolgen. Arturo wirkte in seinem glänzend-grauen Anzug wie ein alternder Playboy.

Hans SOJER blieb dieser Partie stimmlich und darstellerisch nichts schuldig. Als einzige nicht überzeugen in der ansonsten hervorragend besetzten Aufführung konnte Gertraud WAGNER als Alisa. Blaß in der Darstellung, fehlte ihrer Stimme auch der mütterliche Klang, den man sonst von einer gestandenen Amme oder Erzieherin erwartet.

Fazit: Ein spannendes Regiekonzept, überzeugend umgesetzt, ausgezeichnet musiziert und hinreißend gesungen; ein sehr empfehlenswerter Opernabend, der neugierig macht auf weitere hannoveraner Produktionen. Sabine Gießelmann