"LA SONNAMBULA" - 9. November 2002

Die auch "Entstaubung" genannte Aktualisierung von allgemeingültigen Bühnenwerken wirkt bekanntlich häufig gewollt, meist überheblich oder zumindest immer im tödlichen Spinnennetz der künstlerischen Logik verfangen. Während die Gehirnzellen sich in Sisyphusarbeit aus den winzig kleinen Splittern, die vom Werk übrig geblieben sind, ein trübes Mosaik zusammenzusetzen versucht, erfriert das Herz unter der in der Sonne der Entzauberung gleißenden neunziger Jahre-Eisschicht. Stimmen sind wahrzunehmen, aber nicht zu erleben. Die Musik schweigt.

Und diesmal? Nichts Neues und doch viel Positives. Das neonleuchtende Bar-Ambiente, die Kostüme in gefälliger Vorabendserieneleganz, freche Frisuren aus der Girlie-Generation, die schon obligaten Anzüge der Herren, all dies war in der Ulmer "Sonnambula" ein ebenso ästhetischer wie erfrischender, jedoch niemals die Intention der Musik überlagernder, Blickfang. Vor dem elegant-kühlen Hintergrund des Bühnenbildes wirkte Bellinis Musik sowohl in den Stimmen also auch im Orchestergraben (Dirigent: Thomas MANDL) leicht und durchsichtig. Eine gelungene Parallele zwischen Szene und Klang war also eröffnet (Bühne und Kostüme: Andrea HÖLZL).

Der Regisseur Klaus RAK führte die Personen nach der Devise "weniger ist mehr", was jedenfalls dem CHOR einen Bärendienst erwies. Der Chorklang ließ hinsichtlich Homogenität und Volumen gegenüber anderen Produktionen zu wünschen übrig, und nun waren die einzelnen Mitglieder auch noch darstellerisch offenbar weitgehend auf sich gestellt. Wer den Ulmer Opernchor kennt, weiß, daß dies eine Verschwendung von Potenzial ist.

Wie erwartet tat die dezente Personenregie den Solistenleistungen keinen Abbruch. Und das bis in die kleineren Rollen. Gisela SCHUBERT als Amme Teresa und Oliver HAUX in der Rolle des Alessio wurden ihren Aufgaben zu jedem Zeitpunkt gerecht und ließen niemals Präsenz vermissen.

Darstellerisch wie immer souverän konnte Nikolaus MEER als Graf Rodolfo diesmal das angenehme Timbre seiner Baritonstimme in vielen lyrischen Abschnitten ausführlich zur Geltung bringen. Franziska STÜRZ gab die Lisa als eine bodenständige, originelle Göre und brillierte stimmlich vor allem mit Beweglichkeit und hohen Tönen in der Extremlage. An kolorierten Variationen bei Phrasenwiederholungen wurde übrigens nirgendwo gespart.

Selbstverständlich auch nicht in der Titelpartie: Eva ZETTL sang die Amina mit schier endlosem Durchhaltevermögen und meist enormer Klangschönheit. Die virtuosen Passagen bot die Sängerin zwar stets präzise, jedoch niemals in spektakulärer Manier dar. Man hörte hier einen agilen lyrischen Sopran, keine Koloraturspezialistin. Die zarten eher mädchenhaften Farben der Stimme kamen daher besonders gut in den bellini-typischen romantischen Momenten zur Geltung, die so zum Herzstück der Partie wurden.

Neben dieser durch und durch erstaunlichen Leistung gab es mit Xu CHANG als Elvino allerdings einen Sänger, der an jenem Abend mit geradezu überragender Stimmpräsenz die ungeteilte Begeisterung des Publikums auf seiner Seite hatte: In jeder Note, zu jedem Zeitpunkt strömte seine Tenorstimme mühelos und klar. Aufblühend aus der interessant timbrierten Mittellage wurde jeder der zahlreichen Spitzentöne zu einem neuen umwerfendem Glanzlicht, in dem sich Changs Tenor immer noch wunderbarer zu entfalten schien. Auch wenn Dirigent Thomas Mandl den genialen Duktus des Gesangs nicht optimal unterstützte so darf man doch sagen: Nicht nur, aber hauptsächlich durch Xu Changs einsame Spitzenleistung, wurde die Ulmer "Nachtwandlerin" in der Tat zu einem Belcantoabend der Extraklasse, bei dem das Wort "Provinz" seine positivste Bedeutung erhielt und das Publikum mit Fug und Recht schon auf die nächste Produktion dieser Art (Donizettis "Anna Bolena") gespannt ist.
Mascha Ernst