“WOZZECK” - 19. Januar 2003

Die Oper in Nantes hat sich im letzten Jahrzehnt einen sehr guten Namen gemacht als Stätte der Kreation und zahlreicher Erstaufführungen. Der langjährige Direktor, Philippe Godefroi, beendet sein Mandat mit dieser Saison. Er hat neben dem Repertoire jedes Jahr eine Erstaufführung gebracht (Carlysle Floyd, von Einem, Salinen, Karetnikov, Gurlitt). Da das wunderschöne Théâtre Graslin derzeit renoviert wird, werden die Aufführungen vorübergehend im Palais des Congrès de Nantes gegeben. Die Produktion des “Wozzeck” war eine gute Gelegenheit wieder die schöne und sympathische Hafenstadt an der Loire zu besuchen.

“Wozzeck” ist nicht nur die wichtigste Oper des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein schwer zugängliches Werk. Es war umso erfreulicher, daß das 1800-Zuschauerhaus an dieser Sonntagnachmittag-Vorstellung praktisch voll war, mit einem sehr großen Anteil Jugendlicher.

Die durchwegs gelungene Aufführung litt natürlich an der Größe des Kongreßtheaters mit einer - wie oft in modernen multifunktionellen Häusern - nicht sehr glücklichen Akustik, denn das Gleichgewicht zwischen Bühne und Graben war nicht immer ideal. Daß die Umbauten bisweilen die Zwischenspiele verzögerten, da die Bühnenmaschinerie nicht sehr effizient zu sein scheint, half natürlich auch nicht. Der finnische Dirigent Ulf SÖDERBLOM dirigierte das ORCHESTRE NATIONAL DES PAYS DE LA LOIRE nicht nur sehr kompetent, sondern auch mit hörbarer Liebe und Teilnahme an der Partitur. Er strich sehr die lyrischen Stellen heraus, das immer wieder kommende Schicksalsmotiv “Wir armen Leut‘!”, ebenso wie das “Lasset die Kleinen zu mir kommen!” die naive Seite der Oper unterstrich.

Die ausgezeichneten Solisten der Hauptrollen sind bestens mit den schwierigen Partien fertig geworden. Anne-Sophie SCHMIDT ist eine ausgezeichnete, junge Marie, mit prächtig strahlender Stimme und ungeheurem Temperament. Die Regie gab ihr bisweilen viel auf, wie die reumütige Lesung des Evangelium im 3. Akt in BH und Höschen. Sie müßte auch eine ausgezeichnete Lulu oder Salome sein. Als Wozzeck war der Engländer Andrew SHORE zu hören, der den geknechteten, grübelnden, selbstzerstörenden Psychotiker mit gut geführter Stimme, schönem Timbre und hinreißendem Spiel darstellte.

John HURST, auch Engländer, war ein protziger, stimmkräftiger Tambourmajor, dessen Selbstgefälligkeit durch die bewußt grotesken Kostüme noch unterstrichen wurde. Der unverwüstliche Andreas JAEGGI als Hauptmann war die Verkörperung des lächerlichen, bürokratischen und tyrannischen Offiziers. Der riesige, überschlanke William PEEL sang den Doktor, eisig, gnadenlos und präzis in der Maske des Todes. Eine ausgezeichnete Charakterstudie! Alfredo POESINA war ein stimmlich etwas schwacher Andres.

Delphine FISCHER als Margret war rollendeckend, aber kaum mehr. Jean-Pierre CHEVALIER in der hier so wichtigen Mikrorolle des Narren und Thomas ALLIOT als Maries Sohn fanden in dieser Inszenierung eine besondere Betätigung, die sie konsequent vollfüllten. Die beiden Handwerksburschen, Guy-Etienne GIOT und Michel EUMONT, stammten aus dem sehr guten OPERNCHOR (Leitung: Patrick Marie AUBERT), der die Soldaten und Wirtshausgesellschaft stellte. Alle sangen bestens, ebenso wie der KINDERCHOR der Oper unter Elisabeth und Gérard BACONNAIS, was bisweilen auf der riesigen Bühne eine schwere Aufgabe war.

Das Problem war die symbolbetonte, sehr realistische Regie, für die der Hausherr, Philippe GODEFROI, persönlich zeichnete. Er versetzte das Werks resolut in die Jetztzeit. Die bewußte Über-Interpretierung ist klug durchdacht, konsequent durchgeführt und besteht aus der Überhöhung der beiden Nebenrollen, des Narren und des Kindes Maries, die erstmalig tragende Rollen sind. Der Narr ist als Christus dargestellt, der zum ersten Mal, halb versenkt, bereits in der 2. Szene erscheint, in der Wozzeck und Andres Ruten schneiden sollen – hier sind sie Elektromonteure, die große Verteilerkästen montieren. Er trägt in der Wirtshausszene das Kreuz und singt “Es riecht ... nach Blut!” - eine Anspielung auf ein Golgotha unserer Zeit?

Der “Bub”, wie ihn Wozzeck nennt, ist nicht fünf Jahre alt, sondern vierzehn und ist immer auf der Bühne, wenn Marie da ist; einschließlich in der Sexszene mit dem Tambourmajor (er bekommt auch vom Tambourmajor einen großen Teddybären) und ihrer Ermordung, aber auch wenn Wozzeck vom Doktor und Hauptmann verhöhnt wird. Er wird dadurch Zeuge und Mitwisser, ja, Komplize der Abenteuer seiner Mutter und der Qualen seines Vaters. Er zieht die Konsequenzen aus dieser ausweglosen Situation und erhängt sich im letzten Bild. Nicht der Bub, sondern der Narr singt “Hop, hop” und lockt damit den Buben, der mit der Schlinge um den Hals vom Dach des verlotterten Anhängers springt, der ihm und seiner Mutter als Obdach dient.

Diese Instrumentalisierung der beiden Nebenrollen durch den Regisseur gibt der Handlung natürlich einen anderen Blickwinkel, viel phantastischer und symbolischer, aber auch viel realistischer dank der sehr intensiven Personenführung und der grotesken Kostüme. Die Soldaten erscheinen als riesige ausgeschnittene Kartonhampelmänner, der Tambourmajor trägt abwechselnd eine groteske Prunkuniform, ist komplett tätowiert, wenn er Marie imponieren will oder in der Szene mit Wozzeck und Andres (2. Akt, 5. Bild) in einem weißen Anzug. Marie ist abwechselnd in Fetzen oder in einem weißen Primaballerina–Kostüm (in der Kneipe) gekleidet, während sie die Lesung des Evangelium in BH und Höschen an einen Turm gelehnt singt. Der Doktor ist als Tod verkleidet, der Hauptmann trägt ein asymmetrisches Kostüm, halb Frack, halb Uniform. Die riesige Mauer mit der Inschrift “KASERN” im Hintergrund, Stacheldraht, die Klomuschel, auf der Wozzeck beim Doktor sitzt, die Leuchtröhren im Wirtshaus und die erwähnte Kostümierung waren bewußt surrealistisch. Die gesamte szenische Konzeption und die Kostüme stellte das Kollektiv PONCTUELLE her (eine von Philippe Godefroid et Philippe Mombellet gegründete Gruppe von Szenographen, Kostümbildnern, Graphikern und Beleuchtern).

Ein großer Erfolg und viel Beifall des großteils jugendlichen Publikums. wig.